„Ich dachte, Beziehungen sind so.“

Ein Interview über Kunst, Partnerschaftsgewalt und Traumabewältigung

Die Künstlerin Julie Legouez beschäftigt sich in ihren fotografischen, installativen und vor allem biografischen Arbeiten mit zwischenmenschlichen Beziehungen und Intimität. In einer ehemaligen Partnerschaft war sie von Gewalt betroffen und hat diese Erlebnisse zum Thema ihrer Kunst gemacht

Trigger-Warnung: In folgendem Text geht es um das Thema (häusliche) Gewalt. Bei manchen Menschen kann dieses Thema negative Reaktionen oder Retraumatisierung auslösen. Bitte pass auf dich auf, wenn das bei dir der Fall ist. Hier findest du einige Anlaufstellen, wenn du selbst von häuslicher Gewalt betroffen bist oder dich informieren möchtest.

Die Zahl der Fälle von Partnerschaftsgewalt in Deutschland steigt stetig an. Im Jahr 2022 registrierten die Behörden 240.547 Betroffene häuslicher Gewalt, davon 157.818 Fälle von Gewalt in Partnerschaften – fast 10 Prozent mehr als im Jahr davor. Das entspricht im Schnitt 432 Fällen pro Tag. Rund 80 Prozent der Betroffenen sind Frauen und beim Großteil der Täter handelt es sich um ihre Ex- oder aktuellen Partner. Vermutlich gibt es aber eine deutlich höhere Dunkelziffer.

Obwohl das Thema häusliche Gewalt nach wie vor höchst relevant ist, wird selten öffentlich darüber gesprochen. Julie Legouez ist Künstlerin und thematisiert in ihren Arbeiten ihre ganz persönlichen Erfahrungen mit Gewalt in der Beziehung. Vor Kurzem hat sie gemeinsam mit dem Verlag Shift Books ihre erste eigene Publikation veröffentlicht, die sich ebenfalls mit der Bewältigung von Traumata auseinandersetzt. Außerdem ist aktuell ihre Ausstellung „My Happy Place” in Berlin zu sehen. Wir haben mit Julie über ungesunde Beziehungsdynamiken, Partnerschaftsgewalt und den negativen Einfluss von Popkultur gesprochen.

Julie Legouez und Oskar, 2024

Julie, was meinst du: Warum wird die Debatte über Partnerschaftsgewalt so leise geführt? Weil niemand darüber reden will oder weil es keine*r hören mag?

Diese Debatte soll leise geführt werden. Es wird nur laut darüber berichtet, wenn der Täter einen migrantischen Hintergrund hat. Zuzugeben, dass Partnerschaftsgewalt ein strukturelles Problem ist und hinter etlichen Türen stattfindet, würde bedeuten, dass die Politik etwas dagegen tun muss. Und da hat sie keine Lust drauf, obwohl sie sich laut Istanbul-Konvention dazu verpflichtet. Außerdem schweigen viele Betroffene aus Scham. Mir ging es auch lange so. Wenn man sich traut, etwas zu sagen, muss man sich oft dafür rechtfertigen, dass einem Gewalt widerfahren ist. Die typische Täter-Opfer-Umkehr.

Woher kommt das weit verbreitete Bild, Liebe und Schmerz lägen nah beieinander?

Menschen wird suggeriert, dass sie in schrecklichen Beziehungen bleiben müssen. Wenn wir in die Vergangenheit schauen, war eine Trennung, von Scheidung will ich gar nicht erst anfangen, ein absolutes Tabu. Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich etwa neun Jahre alt war. Lange Zeit war es aber wichtiger, was andere von einem denken, statt dass man selbst glücklich ist. Ich selbst habe auch lange gedacht, Beziehungen sind so: Ich dachte, ich muss dem Mann gefallen, mich nach ihm richten, sonst liebt er mich nicht. Meine Bedürfnisse standen meistens hinten an. Aber ich kannte es nicht anders und das hat sich bis 2019 durch mein Leben gezogen. 

Hat auch die Popkultur etwas damit zu tun? 

Definitiv. Alle Filme und Serien, mit denen ich meine Kindheit und Jugend verbracht habe, bauen auf der Idee auf, dass Liebe nicht ohne Leid funktioniert. Gucken wir uns alleine den Film „Die Schöne und das Biest“ an: Was ist das für ein Input für ein junges Mädchen? Lass dich von einem fiesen Monster entführen, das dich von deiner Familie trennt und einsperrt? Und wenn du dich genug anstrengst, wird es dich lieben und ihr seid glücklich bis an euer Lebensende? In meiner Arbeit „Hanging on the past” von 2022 habe ich mich auf über 40 Filme und Serien bezogen, deren Inhalt ich mittlerweile total kritisch betrachte. Es gibt so viele Filme aus den 2000er-Jahren, in denen sich Frauen nur die Brille ausziehen, die Haare offen tragen und ihre Hose gegen ein „sexy“ Kleid eintauschen müssen, um überhaupt von einem Mann gesehen zu werden.

Der Ausgangspunkt deines frisch erschienenen Katalogs liegt im Jahr 2019. In dieser Zeit hast du in deiner Beziehung Gewalt erfahren. Im Buch findet man Tagebucheinträge sowie Fotos der rechtsmedizinischen Begutachtung der Gewaltschutzambulanz. War es eine schwierige Entscheidung, deine Erfahrungen öffentlich zu machen?

Ja und nein. Wie eben schon erwähnt, hatte ich Angst vor Reaktionen wie der Täter-Opfer-Umkehr, und auch vor den Reaktionen von Freund*innen und Familie. Denn sind wir ehrlich, wer gibt schon gerne zu, dass er oder sie in einer Gewaltbeziehung geblieben ist. Ich war ja nicht das „perfekte“ Opfer, dass sich direkt nach dem ersten Schlag getrennt und Anzeige erstellt hat. Sondern ich bin noch weitere neun Monate mit dem Mann zusammen geblieben. Dafür schämt man sich.

Das hat sicherlich auch mit der emotionalen oder finanziellen Abhängigkeit zu tun, in der man oft steckt?

Absolut richtig. Mein Exfreund hat mich so manipuliert, dass ich keinerlei Selbstwert mehr hatte. Ich dachte, ich bin Müll. Ich erzähle immer gerne die Geschichte übers Autofahren: Ich bin eine super Autofahrerin, aber am Ende der Beziehung habe ich mich nicht mehr hinters Lenkrad getraut, weil der Typ mich währenddessen immer so fertig gemacht hat. Dabei hatte er selbst keinen Führerschein mehr. Das zeigt die Absurdität der ganzen Situation. Objektiv betrachtet würde ich jetzt sagen: „Ist der nicht mehr ganz dicht? Schnell weg da!“ Aber wenn man selbst drin steckt, ist das nicht so einfach. Es ist schwer, das zu erklären.

Ansicht der Publikation "THE CURE", 2024

Ein Großteil deiner künstlerischen Praxis nährt sich aus Herzschmerz. Kannst du auch produzieren, wenn es dir gut geht?

Ja, zum Glück. Mir persönlich geht es schon lange Zeit gut und Herzschmerz hatte ich auch schon lange nicht mehr. Ich konzentriere mich jetzt in meiner Arbeit mehr auf die Zerstörung des Patriarchats (lacht). Dieser Schmerz fühlt sich noch etwas schlimmer an, denn patriarchale Gewalt betrifft nicht nur mich, sondern fast alle Menschen. Du merkst, ich sehe die Welt gerade etwas schwarz.

Weniger düster klingt der Titel deiner aktuellen Ausstellung. Dabei thematisiert „My Happy Place“ ebenfalls Partnerschaftsgewalt. In der Galerie Kollaborativ baust du eine klassische Wohnsituation nach. Die Möbel hast du alle bei Ikea gekauft – warum gerade dort?

Jeder Haushalt hat etwas von Ikea. Auch wenn es nur eine Suppenkelle ist. Genauso kann auch häusliche Gewalt jede*n betreffen. Die Zahlen steigen. Jede*r kennt eine Betroffene, aber vermeintlich niemand einen Täter.

Sollen die ebenfalls ausgestellten Stockfotos glücklicher Paare und die vermeintlich heiteren Sinnsprüche suggerieren, das Zuhause wäre ein Paradies, obwohl es das oft gar nicht ist?

Genau, statistisch gesehen ist das Zuhause der gefährlichste Ort für eine Frau*. Die Wahrscheinlichkeit, durch den eigenen Partner getötet zu werden, ist wesentlich höher, als dass ein Fremder nachts aus dem Busch springt und uns umbringt. Dennoch wird darüber viel zu wenig gesprochen. Medien und Politik müssten das viel mehr in den Mittelpunkt stellen. Immerhin ist mehr als die Hälfte unserer Gesellschaft potenziell betroffen. Und Täter sind eben nicht immer nur die Anderen, sondern vielleicht auch dein netter Homie, von dem du es nie gedacht hättest.

Welche Gefühle oder Gedanken möchtest du mit deinen Arbeiten gerne in den Betrachter*innen auslösen?

Da möchte ich nichts vorgeben. Ich bin froh, wenn sie irgendetwas fühlen, dann hab ich meinen Job gut gemacht. Wenn sie sich dann noch selbst reflektieren, umso besser.

Betten kommen in deinen Arbeiten immer wieder vor, auch Kissen, Bettlaken oder Heizdecken. Welche Bedeutung hat dieser Ort für dich?

Ich liebe Betten. Ich liebe schlafen. Trotz jahrelanger Schlafprobleme. Aber in der Vergangenheit war das Bett für mich auch ein Ort der Angst. Ich habe dort viel Gewalt erlebt und so geht es leider vielen Menschen. Diese Ambivalenz reizt mich. 

Ich persönlich mag auch deine „Red Flags“, wortwörtliche Flaggen, auf denen Sprüche wie „Stell dich nicht so an“ oder „You’re too sensitive“ stehen. Oder die Fußmatten mit Gaslighting-Aussagen. Darf man so ernste Themen wie Manipulation und Missbrauch auch humorvoll behandeln?

Das ist meine Art, mit diesem Trauma umzugehen. Mir hilft das, ich lache gerne und viel. Humor hält mich am Leben. In der Kunst darf man doch sowieso alles, oder nicht? Na ja, fast alles.

„RED FLAG (Stell dich nicht so an)“, Ausstellungsansicht Culterim Gallery, Berlin, 2022

Wann und wie entscheidest du, ob du ein persönliches Ereignis künstlerisch verarbeiten willst?

Das ist immer unterschiedlich. Ich sehe das Leben als Kunstwerk und meine Arbeiten als dessen Dokumentation. Da ich das nun schon lange mache, stelle ich mir die Frage oft gar nicht mehr. Es passiert sowieso. Mich interessiert in meiner Arbeit momentan nur das echte Leben.  Auch wenn es langweilig oder rau ist.

 Deine Arbeit „AKTENZEICHEN 512-261 AW//JL 22 (Denn du bist verrückt genug, um dich in dieser Welt zu verlieben. Aber die Welt ist viel verrückter als du und fast wär etwas von uns geblieben.)“ hat mich besonders beeindruckt. Du hast eine Akte über eine vergangene Beziehung angelegt. Mit allem, was dazugehört: Fotos, Dokumenten, sogar ein Fahndungsfoto hast du erstellen lassen. Sind all deine zwischenmenschlichen Beziehungen irgendwann Material für Kunstwerke?

(Lacht) Leider ja. Ich plane das nicht, aber in den letzten 15 Jahren war es so. Ich habe viele Arbeiten zu vielen Menschen gemacht. Und wenn ich ehrlich bin, sind das die Arbeiten, die ich am liebsten mag. Weil sie so universell sind und meistens auf den Punkt.

Welche Reaktionen auf dein Buch und deine Ausstellung sind dir besonders in Erinnerung geblieben? 

Als Künstler*in verliert man oft den Bezug zu den eigenen Arbeiten. Am Buch haben wir, mein Grafiker Daniel Hahn und mein Verlag Shift Books, fast zwei Jahre lang gearbeitet. Nach dieser intensiven Zeit kann mir gar nicht vorstellen, wie es sich anfühlen muss, das Buch jetzt zum ersten Mal zu sehen. Aber viele Menschen haben geweint und waren sehr berührt. Eine Person hat über die Ausstellung gesagt, es sei eine ganz schön kluge Ausstellung. Und seien wir doch mal ehrlich, wer hört das nicht gern?!

Vielen Dank, liebe Julie, für das offene Gespräch!

Die Ausstellung „My Happy Place“ ist noch bis zum 8. April in der Galerie Kollaborativ in Berlin zu sehen.
Parallel zur Ausstellung ist das Buch „The Cure“ von Julie Legouez bei Shift Books erschienen.

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