Wie geht es jetzt weiter, nach der Bundestagswahl?

Wie geht es jetzt weiter, nach der Bundestagswahl?

Nachdem wir uns intensiv auf die Wahl vorbereitet haben, müssen wir natürlich auch Fazit ziehen

Wer wird Deutschland künftig regieren? Diese Frage ist einen Tag nach der Bundestagswahl noch nicht zu beantworten, umso spannender, auf mögliche Konstellationen zu blicken – und darauf, was am Wahltag sonst so los war!

Es ist das erste Mal seit 1949, dass keine deutsche Partei bei einer Bundestagswahl die 30-Prozent-Hürde knackt. Laut den vorläufigen Ergebnissen konnte nur die SPD um 5 Prozent zulegen, die FDP um 0,8 Prozent und die Grünen um 6,4 Prozent. Alle anderen sind somit eindeutig Verlierer. Darin sehen die Parteien jedoch kaum Grund zur Selbstkritik, lediglich Die Linke ließ bisher verlauten, mit dem Ergebnis nicht zufrieden zu sein. Der Co-Fraktionschef Dietmar Bartsch, nannte den Abend im ARD-Wahlstudio enttäuschend und fügt hinzu: „Es gilt daraus Schlussfolgerungen zu ziehen“. Alle anderen scheinen durchaus zufrieden, Armin Laschet brachte es doch tatsächlich fertig, seinen Anspruch aufs Kanzleramt weiter aufrecht zu erhalten, von dem Effekt einer Niederlage bisher keine Spur. 

Ampel oder Jamaika?

Derzeit gibt es lediglich zwei realistische Koalitionsoptionen, denn eine Neuauflage der großen Koalition halten aktuell beide beteiligten Parteien für ausgeschlossen (praise the lord!). Für eine Ampel spricht aktuell vor allem, dass dieses Bündnis alle Parteien vereinen würde, die im Gesamtergebnis verglichen mit 2017 zugelegt haben: SPD, die Grünen und FDP. Während der linke Flügel der SPD eine Koalition mit der FDP viele Jahre als völlig irres Szenario darstellte, ist der eher mittig einzuordnende Olaf Scholz gar nicht so weit weg von Christian Lindner und seiner Partei. Christian Lindner müsste aber wohl den weitesten Weg der drei gehen, um dieses Bündnis zu ermöglichen – sind die Forderungen von grün-rot in der Sozial-und Steuerpolitik doch sehr weit entfernt vom Wahlprogramm der FDP. 

Eine Jamaika-Koalition ist nach diesem Wahlabend deutlich unrealistischer, möchte kaum jemand etwas mit dem großen Wahlverlierer zu tun haben. Sollte Armin Laschet dieser Tage mal aufwachen und den Absturz seiner Partei zur Kenntnis nehmen, lässt sich daraus einfach kein Regierungsauftrag mehr ableiten. Jamaika ist eine Illusion, die Bündnisoption wird uns wohl nur noch einige Wochen begleiten, damit grün-gelb durch eine getarnte Alternative stärkere Argumente gegen die SPD vorweisen kann. Olaf Scholz ist hier jedoch tatsächlich in einer schwachen Position, da seine Regierung aktuell von den beiden Parteien abhängig ist. 

Am gestrigen Wahlabend zeigten sich sowohl die Grünen als auch die FDP sehr optimistisch. Vergleicht man die Wahlprogramme, ergeben sich jedoch einige Hürden – vor allem vor dem Hintergrund finanzieller (Steuererhöhungen, Schuldenbremse) und klimapolitischer (Klimaneutralität und Herangehensweise) Aspekte. Ein Kompromiss scheint in weiter Ferne, ist jedoch mit der SPD als Ampel wohl deutlich realistischer. 

Rot, rot, rot sind alle meine Kleider!

Wenn auch die einstige Volkspartei SPD mit knapp 26 Prozent eigentlich kaum zufrieden sein kann, so sind sie eben doch die großen Gewinner dieses Wahltages. Nicht nur startet Olaf Scholz die Sondierungsgespräche zunächst federführend, auch wird seine Partei mit Manuela Schwesig weiterhin Mecklenburg-Vorpommern regieren. In Berlin gewinnt rot mit Franziska Giffey die Abgeordnetenhauswahl.

Die Schattenseiten der Wahl

Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Artikels ist die Gründung der AfD exakt 3156 Tage her. Hatte man zunächst das Gefühl, dass der neue Feind alle anderen Parteien zusammenschweißt und die AfD lediglich von der sich ankündigen Flüchtlingskrise profitiert, stellte sich schnell heraus: Die sind gekommen, um zu bleiben.

Der Politik wurde klar, dass es in Deutschland einen Rechtsruck gibt, hinter dem eine Szene steht, die sich nicht nur abends in den Stammkneipen in ein paar Dörfern trifft, sondern die so groß ist, dass sie ihre Anführerpartei in den Bundestag befördert. Und in jeden einzelnen Landtag dieses Landes.

Anfangs wurde viel diskutiert, was nun der beste Umgang damit sei. Sollte man die AfD einbinden, um ihre Argumente im öffentlichen Diskurs zu entkräften (ein Kinderspiel), aber dadurch auch eine Bühne bieten? Oder grenzt man sie medial vollends aus, um potenzielle Wähler*innen gar nicht erst anzulocken? Die Meinungen, wie man sich dieser Partei gegenüber verhalten sollte, variieren stark. Feststeht, bisher ist weder Politik noch Medien gelungen, den grauen Schatten unserer Demokratie wieder dahin zu befördern, wo er hingehört: ins Jenseits. 

83 Sitze wird die Partei im kommenden Bundestag voraussichtlich besetzen, 16 davon per Direktmandat. In 16 Wahlkreisen in Deutschland befanden die meisten Wähler*innen also keine zur Wahl stehende Person als besser geeignet, sie im Bundestag zu vertreten. In Thüringen und Sachsen wurde sie sogar stärkste Kraft. Oft frage ich mich, wie es Menschen mit Migrationshintergrund oder mit queerer sexueller Orientierung in Deutschland gehen muss, die diese Zahlen lesen müssen. Ob sie sich noch trauen, nachts alleine nach Hause zu gehen. Ob sie überhaupt noch Hoffnung in die Politik haben?

Ich persönlich war überrascht, wie wenig Platz im Wahlkampf für Themen wie Rassismus und Diskriminierung geschaffen wurde. In der letzten Legislaturperiode gab es so viele Aufschreie: Rechte Gewalt bei der Polizei. Halle. Hanau. Keine Partei scheint das Thema als so wichtig zu empfinden, dass sie sich mit den besten Lösungsansätzen schmücken will und ich komme nicht umhin mich zu fragen, ob es dann überhaupt Gewinner*innen bei dieser Wahl gibt. Oder in diesem Land. 

Berlin, Berlin….

Seit vielen Jahren wünsche ich mir Fortschritte in der Digitalisierung Deutschlands, vor allem, wenn es um Behördengänge aller Art geht. Eine Sache kann aus romantischen Gründen aber gerne für immer analog bleiben: Der Wahlgang. Altmodisch im besten Sinne. Kaum etwas veranschaulicht das hohe Gut der Demokratie so sehr, weshalb es mich jedes Mal ins Wahllokal zieht und ich noch nie Briefwahl beantragt habe. Seitdem ich 18 Jahre alt bin, betätige ich mich außerdem als Wahlhelferin, so auch gestern zur Bundestagswahl.

Während ich schon wieder über die schlechte Organisation in unserem Kreuzberger Wahllokal staunte (keine Ansprechpartner vor Ort, keine Teilnehmerliste, fehlendes Material…), konnte ich meinen Ohren nicht trauen, als ich von den Kollegin*innen aus Charlottenburg oder Prenzlauer Berg hörte.

Dort standen Wähler*innen zum Teil über zwei Stunden an, um dann zu erfahren, dass es keine Stimmzettel mehr gibt. Hunderte ließen somit ihre Stimme verfallen oder warteten weitere Stunden, bis durch das Marathon-Chaos neue Zettel am Wahllokal ankamen. Kaum zu glauben! Nach dem Berlin sich dieses Jahr entschied, die Wahl zum Abgeordnetenhaus, einen Volksentscheid und den Marathon auf den gleichen Tag, wie die Bundestagswahl zu legen, wurde die Hauptstadt ihrem Ruf der landesweit schlecht organisiertesten Verwaltung mal wieder gerecht. 

Bye-bye Mutti!

Woran sich viele nicht erinnern: Auch Angela Merkel war ihrem ersten Konkurrenten um das Kanzleramt, Schröder, gerade mal um einen Prozentpunkt überlegen. Dennoch bildete sie schließlich erfolgreich eine große Koalition und legte am 22.11.2005 also offiziell den Amtseid ab. Was wohl kaum jemand vorhersagen konnte: Es würden noch drei weitere folgen! Ich war damals zehn Jahre alt, Angela Merkel ist somit die einzige Kanzlerin, an die ich mich bisher richtig erinnern kann.

Und an all die großen Krisen. Auf Finanz-, Wirtschafts- und Eurokrise folgten Flüchtlings- und Corona-Krise. Ihren Spitznamen – Krisenkanzlerin – zweifelt wohl kaum einer an. Frau Merkel war Europas Krisenmanagerin in instabilen Zeiten, mit ihr geht die dienstälteste EU-Regierungschefin. Die Meinungen über ihre Politik und darüber, wie gut ihre lange Führung Deutschland wirklich tat, sind gespalten.

Eins ist jedoch klar: Merkel war Freund, nicht Feind. Sie wollte stets vereinen, nicht spalten. In den großen Momenten zeigte sie sich menschlich, in der männerdominierten Weltpolitik vertrat sie europäische Werte mit allen Mitteln. Ihr Credo stets „Wir schaffen das“. Bevorzugte sie es, brenzlige Themen klug zu umschiffen und  ihre Kritiker dabei häufig mit vagen Aussagen zu ärgern, so stand sie ein, für das was sie dann mal zusagte.

Gleiches gilt nun für das Ende ihrer politischen Laufbahn. Sobald ihr Nachfolger den Amtseid abgelegt hat, wird Angela Merkel von der politischen Bildfläche verschwinden. Als sie Juli 2021 im Rahmen der Verleihung der Ehrendoktorwürde an der Johns-Hopkins-Universität in Washington gefragt wurde, was sie nun vorhabe, erzählte sie, sie wolle eine Pause einlegen und herausfinden, was sie eigentlich so interessiert. „Und dann werde ich vielleicht versuchen, was zu lesen, dann werden mir die Augen zufallen, weil ich müde bin, dann werde ich ein bisschen schlafen, und dann schauen wir mal.” Well deserved, Frau Merkel!

Viva la Demokratie!

 Ein mehr oder weniger spannender Wahlkampf ist somit beendet, ab jetzt schmeicheln sich die Parteien vorerst wieder nur gegenseitig und nicht mehr mit Fokus auf uns Wähler*innen. Meine endgültige Meinung über das Ergebnis steht und fällt ehrlicherweise mit der sich daraus ableitenden Koalition. Als ich gestern Abend um 23:00 Uhr von der letzten Zählung im Wahllokal nach Hause lief, war ich dankbar dafür, dass ich das große Glück habe, in einer Demokratie zu leben, in der ich frei wählen darf – ein Privileg, was vielen Frauen und Minderheiten weltweit immer noch vorenthalten wird. Dankbar dafür, dass Ergebnisse hier anerkannt werden (früher oder später, Herr Laschet…) und dafür, dass Wahlkämpfe, zumindest unter den demokratischen Parteien, fair verlaufen. 

Kürzlich ergatterte ich mit einer Freundin noch zwei Plätze am Tresen einer Bar, wo eigentlich nicht gesessen werden darf. Der Barkeeper stellte lediglich die Prämisse auf, dass wir nicht über Politik sprechen. Für mich natürlich gerade in den Tagen vor einer Wahl besonders schwer, aber besser, als Freitag um 22:00 Uhr in Kreuzberg wieder auf Sitzplatzsuche zu gehen. Wir ließen es also den ganzen Abend bleiben. Diese Abende möchte ich mir jetzt auch ohne erzieherischen Barkeeper wieder häufiger gönnen. Probiert's mal aus. Und wir hören uns dann wieder, wenn der Koalitionsvertrag steht! 

Wir solidarisieren uns mit allen Menschen, die Rassismus, Gewalt oder jegliche Form der Diskriminierung erfahren oder erfahren haben. Wir sprechen uns für eine Gesellschaft aus, in der für alle Platz ist, in der jede Person die gleiche Würde erfährt.

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    Claudio Schwarz via Unsplash

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