Digitale Nomadin auf Zeit
Arbeiten + Reisen = Urlaub? So sieht dieses digitale Nomadentum vielleicht aus ...
... aber wie ist es wirklich? Nach 4 Monaten ziehe ich Resümee! Kann man ohne festen Wohn- und Arbeitsplatz gut leben – oder braucht es doch ein Büro und eine tägliche Routine?
Koffer packen. Nicht groß nachdenken. Einfach raus. Und ganz normal weitermachen. Danach hört sich für mich digitales Nomadentum an: nach Freiheit, Laptops mit Strandausblick, Zoom-Meetings mit Vogelgezwitscher im Hintergrund und vor allem jeder Menge Freizeit. Und nach meinem Traum. Ich bin selbstständig, ich bin erwachsen, ich bin eigentlich ungebunden, was meinen Arbeitsplatz angeht und brauche nur ein Handy, ein Laptop und Internet. Warum ich also nicht schon vor Jahren losgezogen bin? Nun, das ist eine längere Geschichte ...
Die Angst vor dem Unbekannten
Die Schuld auf andere zu schieben, ist immer der leichteste Weg. Deswegen fange ich ganz ehrlich an: Weil ich Angst hatte. Vor den Kosten, vor dem Alleinsein, vor den ganzen Abenteuern. Während andere schon direkt nach dem Abitur auf Weltreise gingen, verließ ich nicht mal meine Heimatstadt. Gut, Berlin ist auch echt alles andere als langweilig, trotzdem bereue ich es jetzt im Nachhinein, dass ich mich nicht als Aupair oder Work-and-Travellerin irgendwo anders mal für eine Zeit niedergelassen habe. Aber die Angst vor dem Unbekannten war zu groß – und die Bindung zu meiner Familie zu stark. Also blieb ich.
Schnell war das Traumstudium gefunden, danach folgte ein erster fester Job, während dem ich meinen Freund kennenlernte. Er war (und ist) festangestellt – mit Bindung ans Büro und ans Team. Jetzt hatte ich zwar endlich den perfekten Partner für alle Abenteuer im Ausland gefunden, aber es gab da noch einen Haken: die Liebe zu seinem Job. Also beschloss ich, zu warten. Denn alleine zu gehen, das poppte zwar ein paar Mal in meinem Kopf auf, aber die Angst vor dem Unbekannten war zu groß – und die Bindung zu meinem Freund und zu meiner Familie zu stark. Also blieb ich.
Fast sechs Jahre später war er immer noch da: der Traum zu reisen, orts- und zeitunabhängig zu leben, Abenteuer zu erleben und dem Alltag zu entkommen. Und das taten wir auch, aber meistens in Form von Urlaub. Beziehungsweise in den Urlaubstagen meines Freundes, in denen ich dank meiner Selbstständigkeit schon mal üben konnte, wie sich das digitale Nomadensein so anfühlen könnte. Und schon da merkte ich, dass nicht immer alles so schön, so perfekt und so easy war, wie man es oft liest und es sich vorstellt. Aber ich schob es auf meinen Freund, der Urlaub machte – und mich damit natürlich auch in eine Zwickmühle brachte: Den ganzen Tag am Laptop wollte ich seinetwillen natürlich nicht verbringen. Also arbeitete ich nachts und morgens, wenn er schon oder noch schlief. Erholung? Fehlanzeige!
Rauszeit ist keine Auszeit
Springen wir also zum Juli 2022. Der Entschluss war gefallen: Mein Freund reduzierte seine Stunden drastisch und verabschiedete sich von seinen Kolleg*innen. Bye bye, Büro-Alltag. Hello, Sabbatical – auch wenn wir jetzt vier Monate einen anderen Namen dafür haben, nämlich Rauszeit. Denn Sabbatical klingt nach Nichtarbeiten. Und wow, was haben wir die letzten vier Monate gearbeitet ...
Der Plan war, sich vier Monate möglichst wenig in Berlin aufzuhalten – und möglichst alle Reisen, egal ob privat oder beruflich, gemeinsam zu unternehmen, die sich auftaten. So sah unsere Route aus:
Stuttgart. Luxembourg. Bordeaux. Stuttgart. Bodensee. Kopenhagen. Südschweden. Holland. Kopenhagen. Bodensee. Provence. Bodensee. 8000 Kilometer haben wir zurückgelegt.
Klingt vielleicht gar nicht so viel, führte aber dazu, dass wir höchstens zwei Wochen am Stück in den letzten vier Monaten in unserer eigenen Wohnung waren, die ansonsten untervermietet wurde.
Auf Instagram sah man viele schöne Unterkünfte, tolle Landschaften, jede Menge Bikini-Fotos und Lächeln. Was man nicht sah: jede Menge Tränen, schlaflose Nächte, Tage vor dem Laptop, Verzweiflung wegen der schlechten Internet-Verbindung, stundenlange Telefonate und eine Koordination, die mich fast mürbe machte.
Denn alles, was im Alltag so selbstverständlich und vielleicht manchmal langweilig erscheinen mag, läuft unterwegs nicht mehr so mühelos mit oder muss bestens organisiert werden: ein Arbeitsplatz mit einer guten Internet-Verbindung. Anlieferung von Arbeitsmaterial, in meinem Fall Pakete mit Inhalten für Kooperationen. Digitale Meetings statt spontaner Treffen im Büro. Kommunikation mit dem Team. Vermietung der Wohnung. Koordination mit Terminen, die unbedingt in der Heimat stattfinden müssen, z.B. Arzttermine.
An manchen von diesen Dingen bin ich öfters gescheitert: Konnte tagelang nicht richtig arbeiten, weil die Internet-Verbindung nicht wie versprochen gut war, weil Pakete nicht rechtzeitig ankamen, weil die Kommunikation mit dem Team immer aufwendiger und anstrengender wurde, weil ich weniger Mails bekam, weil viele dachten, dass ich im Urlaub sei und mir meine Ruhe gönnen wollten.
Die Tage und Wochen, die wir in Berlin verbrachten, waren so stressig, dass ich die letzten Nächte vor unserer Rückkehr kaum noch schlafen konnte. Alle Meetings, Shootings, Lieferungen, Arzttermine und natürlich auch Besuch von Familie und Freund*innen wurden in die wenigen Tage gequetscht, am Ende war ich fix und fertig.
Die Realität reist auch mit
Das Ergebnis: Nach vier Monaten war mir klar: Digital Nomad sein, das klingt zwar traumhaft, aber ist eben doch nicht so easypeasy, wie es von außen wirkt. Jedenfalls nicht in meinem Job ...
... aber mehr Freiheit als davor, die brauche ich ab sofort. Denn ich habe auch Dinge (schätzen) gelernt, die ich beibehalten möchte, egal ob auf Reisen oder in Berlin:
Meine 5 Learnings über ortsunabhängiges Arbeiten:
- Die Arbeitswoche Montag bis Freitag ist ein Konstrukt, an das man sich nicht immer halten muss. Stattdessen arbeite ich gerne auch mal am Wochenende, mal drei Tage nicht oder sieben Tage durch. Denn Montag zu hassen und sich auf Freitag zu freuen, das fühlt sich für mich wirklich nach Fesseln an.
- Ebenso geht es mit den Stunden. Wer kann, sollte sich von den acht Arbeitsstunden verabschieden – Effizienz, To-do's und vor allem das eigene Gefühl und die Energie sollten die Dauer, aber auch die Lage der Stunden beeinflussen. In Frankreich haben wir abends von 18 bis 12 Uhr nachts gearbeitet und es war großartig!
- Weiter im Voraus organisieren. Im Alltag neige ich zu sehr viel Spontaneität und Flexibilität. Manchmal vielleicht ein bisschen zu sehr. Deadlines, Abläufe und Zeiträume klarer für alle (Kunden, das eigene Team und sich selbst) zu definieren, kann den Workload dann doch manchmal besser verteilen.
- Arbeitsplätze neu definieren. Ich brauche weder Ruhe noch einen Schreibtisch, um effektiv zu arbeiten. Stattdessen können am Set 10 Leute um mich herumwuseln und ich kann trotzdem die effizientesten zwei Stunden überhaupt haben. Auch das Gefühl, nur in aufrechter Position und am Schreibtisch „richtig“ zu arbeiten, habe ich abgelegt. Auf der Couch oder im Bett geht das genauso gut, ebenso wie am Pool (so lange das Internet gut ist).
- Länger an einem Ort sein. Würde ich in die Vergangenheit reisen, würde ich weniger und stattdessen längere Aufenthalte einlegen. Dann kann man sich vor Ort bestens an die Gegebenheiten gewöhnen, verliert nicht so viel Lebens- und Arbeitszeit im Auto, Zug oder im Flugzeug und kann auch in der Ferne und auf Reisen eine Routine etablieren.
Zurück in Berlin bin ich nach den vier Monaten also noch lange nicht reisefaul, ganz im Gegenteil, die nächste Reise steht bald an. Ich habe weniger Angst, ich weiß, was ich brauche, kann mich besser organisieren, besser kommunizieren, aber ich weiß vor allem eines: Bitte fragt mich keiner mehr, wie es denn im URLAUB war. Denn ich war die letzten vier Jahre nicht mehr im Urlaub – Reisen bedeutet nicht nur Freizeit. Nicht mehr 2022. Nicht mehr im Zeitalter vom digitalen Nomadentum. Wenn ich mal wirklich im URLAUB bin, dann seht und hört ihr nichts mehr auf Instagram von mir, dann kriegt ihr nur eine Out-of-office mit der Nachricht: „Ich bin im Urlaub – und lese meine Mails NICHT.“
Natürlich weiß ich, dass diese Art von Leben und Arbeiten mehr als privilegiert sind und ich habe den Großteil der letzten vier Monate unendlich doll genossen. In der Natur zu arbeiten, mit weitem Blick, neuen Eindrücken, weniger Alltag und mehr Abenteuern, das ist wirklich eine Erfahrung, bei der ich hoffe, dass sie jede*r von euch irgendwann einmal machen kann. Und wenn es „nur“ vier Monate wie bei uns sind – und nicht das ganze Berufsleben. Trotzdem war es mir wichtig, den Vorhang auch mal zu lüften.
Also klappe ich mein Laptop weiter an den schönsten Orten der Welt auf, um vor allem für euch (und mich) Inspiration, spannende Brands und interessante Menschen zu finden – und das Ergebnis lest ihr dann auf hier, auf BEIGE! Und das liebe ich so sehr!