Kulturschock Deutschland – Felix' Auslandskolumne
Teil 3: Möchte ich weiterhin in Deutschland leben?
Wie ist es, sich nach zwei Jahren Ausland wieder einzuleben? Felix zieht sein erstes Résumé, nachdem er belgischen Riesling gegen Berliner Luft getauscht hat
Kennt ihr sie, diese leichten, scheinbar endlosen, legendären Berliner Nächte? In denen du vom neuen Italiener an deiner Ecke in eine schicke Bar übersiedelst? Die Stimmung ist gut, dein Outfit fantastisch, nach zwei Getränken geht es weiter. Mit steigendem Pegel sinkt der Anspruch an das Interieur des nächsten Lokals. Dort ist es schon deutlich abgerödelter, doch auch hier schmeckt dein Getränk. Du sammelst noch ein paar Freund*innen mit dem Uber ein, denn die Nacht ist jung und ihr fühlt es. Ihr lacht, tanzt, tauscht euch mit Fremden über eure Merkur-Betonungen aus und plötzlich ist es Sonntag, 14:30 Uhr in der Panorama Bar. I don’t know about you, aber ich habe die ersten Monate zurück voll ausgekostet.
Doch so schön der gepflegte Hedonismus der Hauptstadt auch ist, mich begleiten zunehmend negative Gefühle bei dieser selbst auferlegten Wiedereingliederungsmaßnahme. Denn unweigerlich fällt nach wenigen Wochen auf: Deutschland, deine schlechte Laune, deine Missgunst, deine Leidenschaft für Beschwerdebriefe im Treppenhaus. Mal ganz zu schweigen vom omnipräsenten Rechtsextremismus. Als Medienmaus mit Home-Office-Möglichkeiten stelle ich mir ernsthaft die Frage: Möchte ich weiterhin in Deutschland leben?
Endlich wieder Kommunikation per Brieftaube
Dass meine beschriebene Hingabe zum Hedonismus nicht ewig anhalten würde, war mir aufgrund meines inneren Zynismus klar. Weniger klar war meine Erinnerung an die dumpfen Alltagskonflikte, als ich im Land der Waffeln, des Bieres und einem Mindestmaß an Höflichkeit residierte. Mein erster deutscher Kulturschock kam Anfang des Jahres, als ich einen Brief in meinem Treppenhaus entdeckte: „Wegstellen oder morgen entsorgt!“, waren die freundlichen Worte, die eine Nachbarin an einen illegal platzierten Kinderwagen gehängt hatte. In Belgien störte es meine Nachbar*innen nicht einmal, dass die gemeinsame Haustür mehrere Wochen lang offen stand. Statt handschriftlichen Brandbriefen verwendete man dort höchstens englische Floskeln in der dafür eigens angelegten Whatsapp-Gruppe.
Die wütenden Deutschen der Gegenwart wissen das Problem anderweitig zu lösen, ohne sich mit den unweigerlichen Datenschutzfragen einer hauseigenen Whatsapp-Gruppe auseinandersetzen zu müssen, stellte ich dann fest. Abends schaute ich erneut in die Ecke des Kinderwagendeliktes – und es gab Entwicklungen! Die ursprüngliche DIN-A4-Anklageschrift war vom Täter abgemacht und seine Antwort auf die bisher ungenutzte obere Hälfte des Blattes gedruckt worden. Man kann nur hoffen, mit standesgemäßem Faxgerät mit Einziehfunktion. „Wir nutzen diesen Wagen fast täglich, bitte nicht wegwerfen!“. Mein Nachbar hatte dem Horror der hausinternen Spionagezelle ins Auge geblickt und konnte die globale Ressourcenschonung dennoch priorisieren. Seitdem steht der Kinderwagen, der Konflikt scheint vorerst gelöst. Ob ich mich hingegen davon erholt habe, gilt es noch mit meinem Therapeuten zu klären.
Auch in Belgien war nicht alles magnifique
800 Kilometer weiter westlich, über die Grenze, ereilte mich in den letzten zwei Jahren eine andere Art des nationalen Unbehagens. Langsam aber sicher hatte ich das Gefühl, in einer kulinarisch raffinierten, dafür kulturell überkorrekten Bubble festzuhängen. Die hübschen Häuser unseres Stadtteils, die gepflegten Parks mit polyglotten Menschen darin waren eine wohltuende Abwechslung nach über zehn Jahren Berlin, die maßgeblich durch UberEats-Arenen und queere Diskurse auf der Metaebene geprägt gewesen waren. In Brüssel holte ich fast jeden Morgen Baguette von der Boulangerie an der Ecke, meine Lieblingsverkäuferin war zugewandt, ohne oberflächlich zu wirken. Der Käse, den ich auf das Baguette legte, war mit Trüffel verfeinert.
Trotzdem lauerte da dieser Appetit auf das „Je ne sais quoi“. Ich sehnte mich nach Möglichkeiten der Spontaneität und Unvernunft: Kreuzberger Spelunken, die niemals schließen. Eine gute Portion Salz an vielen Gerichten? Das Grobe und Unfertige. Was it Brussels or was it me? Oder etwas viel Allgemeineres: Kann man einen Ort, eine Stadt, einfach auskonsumiert haben?
Zwei Städte, ein Résumé
Das Leben woanders verändert dich. Der Neuanfang in Belgien hat mir gezeigt, wie elementar das Savoir-vivre ist. Nicht nur in Bezug auf Käse, Wein und eine gepflegte Zigarette. Vor allem geht es um Sanftmut im Alltag. Auf die meisten Unannehmlichkeiten antworten die Belgier*innen „Oh là !”, also „Was soll’s?”. Leute drängeln sich an der Kasse vor? „Oh là“. Du wartest ewig auf deine Bestellung im Restaurant? „Oh là“. Obwohl Belgien so nah ist, ist diese belgische Gelassenheit nun schrecklich weit entfernt. Und die Frage, ob ich weiterhin in Deutschland leben möchte, regelmäßig auf dem Tisch.
Während ich diesen Artikel schreibe, hängt bereits ein neuer Beschwerdezettel in meinem Treppenhaus. Anstatt mich daran aufzureiben und miesepetrig zu werden, merke ich, wie stark sich meine Einstellung zum Leben verändert hat. Mit meiner importierten belgischen Gelassenheit kann ich heute einfach daran vorbeilaufen. Denn mit der richtigen Einstellung sind nicht nur Berliner Nächste leicht, endlos und legendär – die Tage können es genauso sein.
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Fotos:Felix Jung