„Die Chroniken von Na ja“ – Wie mein Freelancer-Dasein weitere Opfer forderte
Wie kann es jemand mit mir aushalten, wenn mein Stresspegel dafür sorgt, dass ich mich selbst nicht mehr leiden kann?
Ich musste die schmerzvolle Extrameile gehen, um zu bemerken, was der Stress mit mir gemacht hatte.
„Du knirschst mit den Zähnen.“ Ich schaute meinen Freund fragend über meinen Kaffeebecher hinweg an. „Hm ... ?“. „Heute Nacht. Du hast richtig krass mit den Zähnen geknirscht. Ich habe dich geschüttelt, damit du aufhörst. Bist du gestresst?“ Mehr als ein lahmes „Danke“ kam mir nicht über die Lippen, während ich verstohlen meinem Kaffee weiter schlürfte.
Innerlich schafft es das Kopfkino indes von null auf hundert in weniger als einer Millisekunde. Warum knirsche ich mit den Zähnen, das machen doch nur Leute, die ihre Gefühle unterdrücken. Außerdem habe ich geschlafen wie ein Baby ... was für ein Blödsinn. Ich putzte mir an diesem Morgen besonders lang die Zähne. Vielleicht, um mich bei ihnen zu entschuldigen? Tut mir leid, Zähne. Aber je mehr ich darüber nachdachte, umso mehr wurde mir klar: Es war eigentlich nicht mein Kauapparat, bei dem ich mich entschuldigen sollte.
Die eigene Chefin sein – das klingt erst mal toll!
Streng genommen müsste ich meinen ganzen Körper um Verzeihung bitten. Und die Köpfe auf den Körpern um mich herum. Den ganzen Winter über habe ich mir eingeredet, dass ich wunderbar klarkomme mit dem mir selbst auferlegten Arbeitspensum. Drei Tage als freie PR-Managerin hier, die anderen beiden Tage als Social Media Beraterin da. Und weil die Woche zwar nur fünf Werktage, diese aber wiederum 24 Stunden und ich als Freelancerin ja auch noch die Wochenenden habe: Warum nicht die ganze Woche nutzen?
Nach der Arbeit ist vor der Arbeit und Faulenzen kann ich ja immer noch. Also widmete ich meine Abende nach der Arbeit und die Wochenenden unserem Baby Beige und schob überall, wo noch Platz war, freie Projekte rein. Ich war der Mensch gewordene Denker von Auguste Rodin – mit dem Unterschied, dass mein krummer Rücken nicht von einem aufgestütztes Kinn herrührte, sondern von meiner äffchenartigen Haltung vor dem Mac. Im Stehen dann logischerweise dann der Richtung iPhone-Bildschirm gebeugte Nacken.
Frei zu arbeiten bedeutet, dass man seine eigene Chefin ist – und das klingt erst mal toll. Ich kann machen, was ich möchte und bin von niemandem abhängig. Ich kann mir selbst freigeben, ich kann mir eine Lohnerhöhung und Urlaubsgeld schenken. Ich kann mich aber auch selbst schelten, wenn etwas nicht gut lief, und dabei gleichzeitig Rücksicht auf meine Gefühle nehmen. Ich möchte mich ja nicht selbst mobben. Chefsein beinhaltet aber auch, dass man feine Sensoren entwickelt und blitzartig reagiert, wenn die Stimmung zu kippen droht. Man muss empathisch sein und die eigenen Angestellten verstehen. Überstunden sind mal OK und Ehrgeiz sollte nicht ausgebremst werden. Die Qualität der Arbeit hängt aber von der Zufriedenheit der Angestellten ab, weshalb Auszeiten und Erholung mindestens genauso wichtig sind, wie eine faire Bezahlung und ein gutes Arbeitsklima.
Was jedoch machen, wenn das eigene Leben plötzlich zu einer endlosen Überstunde wird?
Arme, vergessene, unverstandene, ungerecht behandelte Lisa
Ich muss gestehen, dass meine Arbeitswut mir das erste Mal bewusst sauer aufstieß, als ich im Winter an einem der seltenen Abende, die ich mir nicht mit Aufgaben vollgeladen hatte, im Freundeskreis herumfragte, was denn heute Abend so los sei. „Wir gehen heute alle Kreuzberg essen ... aber du kannst gerne mit!“ Wow, OK. Die komplette Clique (sagt man das eigentlich noch?) hat sich also verabredet, allerdings nicht über unsere Chat-Gruppe, denn das hätte ich ja mitbekommen, und geht heute essen. Mein Kopfkino sprang direkt wieder an. Die wollen mich nicht dabei haben, die haben bestimmt eine neue Gruppe gemacht – eine ohne mich. Finden sie mich oberflächlich? Schließlich bin ich die Einzige von uns, die „was mit Mode“ macht. BIN ich oberflächlich? Oder langweilig? Weil ich immer nur bis maximal drei Uhr durchhalte? Bin ich alt? Warum wurde ich nicht gefragt? Wäre ich damals so weit gewesen, wie ich es jetzt bin, hätte ich mir viel Ärger erspart. But I guess I had to walk this extra mile. Also tat ich das für mich einzig logische zu diesem Zeitpunkt: Ich wurde sauer. Sehr sauer. Ich ärgerte mir fünf Löcher in den Bauch und jammerte meinem Freund das Ohr voll. Natürlich nicht, ohne vorher hanebüchene Vorwürfe in unsere Gruppe zu schleudern und mich in Selbstmitleid zu ergehen. Ich Armes.
Ein weiterer Moment, der zur Einsicht hätte führen können, stattdessen aber in reichlich Verdruss (und das ist noch ein nettes Wort hierfür) endete, war ein Abend mit meinem Freund. Geplant war, die spärliche Zeit zusammen mit richtig viel Quality und ohne Ablenkung zu verbringen. Da wir nicht zusammen wohnen, machte mein Freund sich also auf den Weg zu mir. Mit meinem Hund Martha, die er die letzten Tage gehütet hatte, da ich so beschäftigt gewesen war. Long story short: Ich brauchte mehrere Stunden, um „noch eben etwas fertigzumachen“, mein Freund schlief auf dem Bett ein, der Abend war im Eimer und ich wiederum stinksauer. Wie konnte er es auch wagen, einfach einzuschlafen? Genau dann, wenn ich endlich mit allem fertig bin und Zeit habe? Und dafür hatte ich mich nun so gehetzt? Es wurde geschrien, es flogen Gegenstände und am Ende saß ich alleine auf dem Bett, wütend und enttäuscht. Ich Armes.
„Hast du vielleicht vergessen Instagram zu timen?“ – die Nachricht von Marie pingte vor acht Uhr morgens auf meinem Bildschirm auf. Was sollte denn das jetzt? Und warum fragte sie so hintenrum? Ja, ich habe es vergessen, das hat sie bestimmt gesehen und macht jetzt einen auf nicht wissend ... meine Güte, ich arbeite so viel, da fällt auch mal was durchs Netz. Warum werde ich denn schon direkt nach dem Aufstehen dermaßen geframed. Meine Gedanken spinnten sich so weiter, während ich, natürlich wütend, in die Dusche stieg und mich fertig machte. Tolle Wurst, was für ein Morgen. Da leider außer mir nur mein Freund physisch anwesend war, bekam er noch seine Packung, bevor ich verärgert die Treppen hinunter stapfte, während ich wütende Sprachnachrichten an Marie ins Telefon spuckte. Danke, der Tag kann weg. Ich Armes!
Ignorante, blinde, unausgeglichene und überforderte Lisa
Ich muss euch nicht erklären, was all diese Geschichten eint, oder? Ich habe meine Unzufriedenheit, meine Unausgeglichenheit und meine Überforderung über mein soziales Umfeld abgeleitet. Ich habe bisweilen komplett verrückt gewirkt mit meinen verschrobenen Anschuldigungen, da bin ich mir sicher. Wie diese Menschen, die an Chemtrails glauben und sich Hütchen aus Alufolie basteln. Niemand versteht mich und Schuld sind immer die anderen, klar. Mein Temperament machte mir das alles nicht leichter, denn für eine ansonsten eher pragmatische Kartoffel kann ich wirklich unheimlich wütend werden. Wie der unglaubliche Hulk – nur in kleiner. Da war ich also: wütend, unzufrieden, überfordert und unerträglich.
Die einzige Zeit, die ich mir gab, war auf dem Aschenplatz oder beim Joggen im Park. Ich war ständig unter Strom und die einzige Art und Weise, diesem Stress zu entkommen, war, indem ich wiederum rannte. Wie ein Zirkuspony fühlte ich mich, wo vorne einer an der Mähne zieht, hinten drei Leute am Schweif hängen, während mir die Person auf meinem Rücken unermüdlich die Sporen in die Seiten treibt. Wie war es so weit gekommen? Und, noch wichtiger: Wie kam ich aus der Nummer wieder heraus?
Den genauen Moment, an dem es „Klick“ gemacht hat, kann ich nicht mehr nachvollziehen. Aber es war auch eher ein Prozess, denn ein Aha-Moment. Es fing mit der Erkenntnis an, dass es nicht schlimm ist, sich eine Auszeit zu gönnen und den Laptop zugeklappt zu lassen. Darauf folgte die Einsicht, wie achtlos ich für eine lange Zeit mit mir selbst umgegangen war. Ich habe mich nicht in Alkoholexzessen und Fast Food verloren, aber ich habe mich verloren. In meiner Arbeit. Ich habe nicht auf mich oder meinen Körper gehört, bis ich mich selbst nicht mehr verstanden habe. Wie soll man da andere verstehen oder von ihnen erwartet, dass sie dich checken.
Ich denke, mir hat vor allem ein Monat sehr geholfen, in dem ich die Wohnung meines Freundes hütete, während dieser wiederum vier Wochen als Tour-Manager unterwegs war. Vier Wochen, in denen ich sehr viel alleine war (bewusst), in denen ich mit einem Bruchteil meiner Habseligkeiten auskam und in denen ich all die Zeit, die ich ansonsten in soziale Kontakte steckte, eiskalt und ganz konsequent mit mir allein (na gut, Martha war auch da) verbrachte. Ich war mir selbst ausgeliefert und musste also einen Weg finden, mit mir klarzukommen. Und ich denke, das ist mir gelungen.
Mein kleiner Leitfaden für mehr Entspannung und Zufriedenheit im Alltag
Verständnisvolle Freund*innen
Natürlich gibt es kein Universalrezept, aber was mir in erster Linie geholfen hat, mich nicht zu verlieren und ein unzufriedener Haufen Mensch zu werden, waren das Verständnis und die Engelsgeduld von meinem Freund und meinen Freunden und von Marie. Wer mich zu der Zeit zur Freundin hatte, der brauchte wirklich keine Feinde.
Yoga
Ich habe vor einer Weile meine Yogapraxis wieder aufgenommen und so abgedroschen und wischi-waschi es auch klingen mag: Ich kenne keine Sportart, die den Körper und den Geist so sehr streamlined. Beim Laufen kann man den Kopf ausschalten und das ist sehr oft auch genau das Richtige. Aber beim Yoga wird alles eins, man ist fokussiert, konzentriert und stärkt jede Faser im Körper. Ich mache Dinge nun bewusster.
Apropos Bewusstsein
Essen, Lesen, Arbeiten auch, ja. Nicht alles halb fokussiert und nebenher abhandeln. Gerade beim Thema Essen war ich hier zwar nach wie vor vegetarisch unterwegs, habe mich aber weder an feste Zeiten noch geregelte Mengen gehalten und dann dumm aus der Wäsche geschaut, als die Waage plötzlich vier Kilo mehr anzeigte – trotz Sport. Der Weg zurück ist jetzt leider etwas anstrengender, aber da muss ich nun durch.
Apps & Podcasts
Schließlich habe ich mir tatsächlich Apps heruntergeladen, die mir dabei helfen, herunterzukommen. Besonders gut taugt mir die 7Mind App (und nein, das hier ist kein bezahlter Artikel, obwohl ich das mal als Kooperation hätte vorschlagen sollen), die einen langsam an das Thema Mediation heranführt. Ich hätte niemals gedacht, dass ich das mal sage, aber: Meditieren ist wirklich eine Kraftquelle für den Alltag. Außerdem habe ich Podcasts zum Thema Minimalismus und Achtsamkeit für mich entdeckt, wie z.B. The Minimalists und Endlich Om.
Realistische To-dos
Wie heißt es so schön? „Man soll den Arsch nicht höher hängen, als man scheißen kann.“ Heißt in weniger vulgärer Sprache: „Nimm dir Dinge vor, aber siehe zu, dass sie auch machbar sind." Ich wollte an einem Tag zwei Jobs erledigen, brainstormen, Bilder bearbeiten, aufräumen, Sport oder Yoga machen, Wäsche waschen und früh ins Bett. Unmöglich zu schaffen und der Frust ist hier vorprogrammiert. Also: Klopft euer angepeiltes Tagwerk auf Machbarkeit ab und erledigt vor allem die dringenden und wichtigen Dinge zuerst.
Umwege erlauben
Toll, ihr habt jetzt gefunden, was euch erfüllt und beruhigt. Eure Umwelt hat aber oft genug andere Pläne mit euch und ihr müsst Kompromisse eingehen und umdisponieren. Das ist OK, ärgert euch nicht zu sehr darüber und lasst euch nicht aus dem Konzept bringen. Und wenn die geplante Mediation am Abend zu einem spontane Späti-Ausraster mit den Freund*innen und einem Kater am Morgen wird: Yolo.
Ganz wichtig: Nein sagen
Der Job klingt verlockend, aber ihr wisst schon jetzt, wohin euch die zusätzliche Arbeit bringt. Ist der Stress das Geld wert? Nein? Dann sagt ab. Niemand kann euch zwingen zu arbeiten, ihr seid FREElancer*innen. Umarmt diese Freiheit mehr, denn sie ist es Wert, auch mal einen Monat mit weniger auszukommen oder auf materielle Dinge zu verzichten.
Mein Fazit?
Meine Selbstständigkeit und mein unrealistischer Ehrgeiz haben mich fast kaputt gemacht und meine Freundschaften und Beziehung gefährdet. Daran war einzig und allein ich Schuld. Ich und mein Stolz, allen immer zeigen zu wollen, dass ich alles schaffe. Viel zu arbeiten ist kein Zeichen von Erfolg und „never not working“ ist wirklich die verfaulteste Medaille, die wir uns jemals selbst angesteckt haben. Ich bin alles andere als super Zen und habe noch immer Momente, in denen mich alles furchtbar ärgert oder diese Überforderungspanik hoch schwappt. Dann atme ich tief durch und plane ganz in Ruhe meine Woche neu und beziehe alle Menschen in die Kommunikation und Planung mit ein, die es betrifft.
Wart ihr auch schon an diesem Punkt? Wie habt ihre eure Balance gefunden und was hat euch geholfen? Oder fühlt ihr euch noch immer oft im Freelancer-Sumpf gefangen und schafft es nicht, Nein zu sagen oder den Überblick zu behalten? Teilt es gerne in den Kommentaren!
Dieser Artikel ist Werbung, da er Markennennungen enthält.
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