Schwule Schnecken & Political Correctness – Der schmale Grat zwischen Gerechtigkeit und Wahnsinn

Schwule Schnecken & Political Correctness – Der schmale Grat zwischen Gerechtigkeit und Wahnsinn

Wann ist extreme Political Correctness eigentlich zur Louis Vuitton Tasche der akademischen Elite geworden?

Wann ist extreme Political Correctness eigentlich zur Louis Vuitton-Tasche der akademischen Elite geworden?

Political Correctness berührt uns überall. Wir analysieren die Zusammenstellung der Charaktere unserer Lieblingsserien auf Ethnie und Sexualität, versuchen einen offenen Kopf gegenüber anderen Kulturen zu haben und gendern die E-Mails an unsere Profs. Denn, das ist bekannt, Rassismus, Sexismus oder Schwulenhass sind tief in unserer Gesellschaft und somit Sprache verankert. Es gibt einfach Dinge, die nicht mehr gesagt und auch nicht mehr kollektiv gedacht werden sollten.

Doch seit einiger Zeit hat eine Weiterentwicklung des Phänomens Political Correctness stattgefunden. Anstatt Leute schlicht darauf hinzuweisen, dass Schwuchtel oder Kanake furchtbare Bezeichnungen für Mitmenschen sind, geilen sich mittlerweile viele regelrecht daran auf, andere wegen der kleinsten, vermeintlich diskriminierenden Nuance in deren Sprache zu verurteilen. Hierbei geht es nicht mehr wirklich darum, veraltete Konzepte und Stereotype aus den Köpfen zu holen, es ist eine schlichte Demonstration der eigenen fachlichen Überlegenheit. Ginge es tatsächlich darum, die Mitmenschen bilden zu wollen, würden Personen mit anderen Ansichten nicht sofort aus Seminaren geschmissen oder auf Neuköllner Hauspartys fertig gemacht werden, nur weil sie ihre gesprochenen Sätze nicht perfekt gendern. Es wird lieber der akademische Bildungsgrad in Szene gesetzt, als Mitmenschen auf Augenhöhe am gesammelten Wissen teilhaben zu lassen. Die extrem gelebte Political Correctness ist zur Louis Vuitton-Tasche der akademischen Elite geworden.

Als Praxisbeispiel hier ein Erlebnis der letzten Wochen aus Berlin-Mitte:

Ich wollte ein paar Freund*innen von einer Lesung in Mitte abholen, um anschließend in eine Bar weiterzuziehen. Ich stieg aus der U-Bahn aus und suchte dann auf Google Maps die Location, die sich in einem nahegelegenen Innenhof befinden sollte. Doch nirgends Leute oder ein Schild in Sicht, das auf die Veranstaltung hingewiesen hätte. Schließlich bemerkte ich zwei Mädchen in Buffalos, die sich auf Englisch unterhielten. Ich fragte also das Mädel mit dem eindeutig deutschen Akzent nach der hier irgendwo stattfindenden Lesung – nur um eine pampige und in schlechtem Englisch formulierte Abfuhr zu bekommen, bevor sie in einer verlassenen Garage verschwand.

Sofort dämmerte es mir: Eine abgeschrabbelte Garagensituation, diese Auskunft gerade, kein Name am Tor dran vong Metaebene her – das riecht doch stark nach einem Kunstevent! Gedacht, getan und ich huschte ebenfalls in die Garage und sah tatsächlich meine Freund*innen in einem Halbkreis aus Klappstühlen um einen Beamer und eine scheppernde Soundanlage versammelt sitzen.

Ich hatte gar nicht vor zu bleiben, denn das exklusive Event hätte eigentlich schon vorbei sein sollen. Doch leider hatte ich nicht so viel Glück. Ich setzte mich also hin und nahm die Leute um mich herum mit ihren ultrakurzen Ponys, Polyamid-Hosen, Metallkettchen und important Gesichtsausdrücken wahr. Der Sound der Mikros und Boxen war schlecht, ich hörte permanent das englische Wort „Snails” und dachte auch nach dem dritten Mal noch, dass ich mich verhört haben muss. Doch beim Blick auf die unscharfe Beamer-Projektion auf der Schrabbelgaragenwand erkannte ich plötzlich tatsächlich Schnecken, die sich im für den Kunstsektor vorgeschriebenen schwarz-weiß-giftgrünen Design drehten. Ich war auf der Projektpräsentation eines virtuellen Schnecken-Avatar-Netzwerks gelandet!

Das Künstler*innenkollektiv, das das Event verantwortete, bestand aus sechs Leuten, die auf halbgarem Englisch in die Mikrofone mit Fisher-Price-Qualität einquakten und das Konzept ihres bahnbrechenden Netzwerks vorstellten. Falls ihr es noch nicht wusstet: Schnecken sind extrem queer, denn, wie erklärt wurde, „they deconstruct and question our capitalistic concept of time”. In anderen Worten: Sie sind fucking langsam. In Zeiten von Akzelerationismus, Turbokapitalismus, Hektik und Stress ritt die Avatar-Schnecke auf ihrem weißen Netzwerk-Ross herein und zeigte uns den Weg ins Glück. Durch ihre anti-kapitalistischen Ideologien schafft sie es außerdem, Rassismus die Stirn zu bieten, der ja Hand in Hand mit dem Kapitalismus durch die Welt wütet. Ich, die Garagengesellschaft und der Planet dankten.

20 Minuten lang debattieren weiße Menschen die Problemfragen unserer Zeit

Wie bei den meisten traumatischen Erfahrungen realisiert man erst im Nachhinein, was da gerade eigentlich passiert ist und wie schlimm das Erlebte wirklich war. Ich saß dort und dachte, ich verstehe irgendwas nicht. Bis Minuten später die Stimmung kippte und es mir endgültig die Augen öffnete. Eine der Künstler*innen erzählte von ihrem künstlerisch-wissenschaftlichen Research, der auf ihrem Neuköllner Balkon stattfindet. Dort, fasziniert von ihrer revolutionären Zeiteinteilung, züchtet und kreuzt die Dame echte Schnecken. Wo sie diese erlesene Kompetenz erlernte hatte, blieb jedoch ein Geheimnis, denn die erste Frage schallte schon aus dem Publikum. Erst nickend und dann mit zusammengezogenen Augenbrauen wichtig guckend stand das Kollektiv da, während das Fisher-Price-Mikro auf dem umständlichsten Wege zur Frageperson durchgereicht wurde. „I think your experiments with the snails show shocking similarities with Hitler’s in the concentration camps”. Stille. Dann ein weiteres wichtiges Nicken aller Anwesenden. Der Vergleich lag nicht gerade auf der Hand, vor allem angesichts der recht unterschiedlichen Größenordnungen an Morden. Dennoch entfachte eine eifrige Diskussion, denn hey, wie kann diese Frau die so anti-rassistisch grundeingestellte Schnecke für ihre fiesen Euthanasie-Experimente missbrauchen? Einfach pervers!

„ „Wie siehst du deine Privilegien im Kontext der Schnecken-Euthanasie, die auf Neuköllns Balkonen losbricht?”, „Kann der Schnecken-Avatar die Transgender-Community ausreichend repräsentieren?”, bis hin zu: „Dürfen wir, als Privilegierte, überhaupt sprechen?” “

Der Diskurs um die Gleichbehandlung aller Gesellschaftsgruppierungen driftet so weit ab, sodass es nicht mehr wirklich darum geht, anderen zu helfen. Er ist, wie so einiges im medialen Zeitalter, zu einem verzerrenden Selbstdarstellungstool geworden. Der Diskus wurde kommodifiziert. Wie helfen queere Schnecken-Avatare tatsächlichen queeren Menschen, die auf der Straße verkloppt werden? Und ist es nicht sehr paradox, eine Frau zu ignorieren, weil sie Gendern für sinnlos hält? Ironischerweise untergräbt dieses Verhalten den eigentlichen Sinn und Zweck der Political Correctness. Das Gender-Sternchen beispielsweise, das u.a. auch soziale Klasse und Bildungsniveau berücksichtigt und hinterfragt, wird ad absurdum geführt, wenn es instrumentalisiert wird, um weniger gebildete Menschen herabzusetzen. Und was nützt es den Trans*frauen auf dem Strich an der Kurfürstenstraße, wenn du dein Gegenüber betrunken angeschrien hast, er solle doch bitte „Sexarbeiter*innen” sagen?

Verhältnismäßigkeit und eine grundsätzliche Diskussionsbereitschaft wären hier manchmal schön. Denn eine zu hohe Abstraktion der Ungerechtigkeiten in unserer Sprache und der Welt führen irgendwann ins Nirgendwo. Natürlich gibt es Zusammenhänge in der Welt, die abstrakte und auch komplizierte Lösungsansätze brauchen. Diese jedoch so zu verwenden, dass keine Verbesserung, sondern lediglich Frustration oder Abschottung auf der Gegenseite erreicht werden, ist Bullshit. Political Correctness braucht Kommunikation durch gesellschaftliche Schichten und verschiedene Meinungen hindurch. Lasst uns das wieder mehr in Angriff nehmen.

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