Warum wir alle (alle!) ein bisschen Medusa sind

Warum wir alle (alle!) ein bisschen Medusa sind

Besser ein Kopf voller Schlangen als gar keine Emotionen

Medusa, die Frau mit den Schlangen auf dem Kopf, kennen wir fast alle. Aber warum ist sie eigentlich so schrecklich wütend?

Oben ohne, in der Mode und als Trickfilmfigur – Medusa begegnen wir überall!

Als Markensymbol prägt ihr Kopf das Label Versace, Rihanna mit Medusenhaupt ziert das Cover der GQ und selbst im Trickfilm „Monster AG“ ist das Fantasiewesen Celia Mae an die mythologische Figur mit den Schlangenhaaren angelehnt. Im Film „Percy Jackson: Diebe im Olymp“ bekommt Medusa sogar richtig Tiefe. Die von Uma Thurman verkörperte berühmte Schlangendame offenbart darin: „We get so lonely here. Don't we? That's why I create my statues. They're my only company.“

Kein Wunder, dass Medusa über Einsamkeit klagt: Auf Darstellungen der Kunstgeschichte sieht sie ganz schön ungemütlich aus. Gefährlich aussehende Schlangen winden sich auf ihrem Kopf. Manchmal hat sie selbst reptiloide Eigenschaften, etwa spitze Schlangenzähne, eine gespaltene Zunge oder giftig grüne Augen. Was besonders auffällt: Medusa wirkt immer schlecht gelaunt. Mal hat sie den Mund zum Schrei geöffnet, mal funkelt sie die Betrachter*innen wütend an.

Aber wer ist diese Reptiliendame eigentlich, warum begegnet sie uns überall und was können wir eventuell sogar von ihr lernen?

Reptiloid und rachsüchtig?

Wie so oft in der griechischen Mythologie gibt es auch über Medusa eine Menge Missverständnisse: Ursprünglich wird sie als eine der drei Gorgonen beschrieben, die wohl allesamt ziemlich furchteinflößend aussahen. Der Sage nach hatten sie neben Schlangenhaaren auch Flügel und schreckliche Fratzen. Die anderen beiden Gorgonen waren übrigens Medusas Schwestern, sie war allerdings die einzige Sterbliche unter ihnen.

Im Laufe der Zeit wurde Medusas Geschichte ein bisschen umgedichtet und im wahrsten Sinne des Wortes „aufgehübscht“: Eine jüngere Version der Story behauptet, Medusa sei ursprünglich eine atemberaubend schöne Frau gewesen. In der griechischen Mythologie ist das häufig eine Metapher für „von vielen Männern begehrt“. Für die interessierte sich Medusa allerdings wenig, sie arbeitete im Dienst der Göttin Athene und hatte sich verpflichtet, keinerlei sexuelle Kontakte einzugehen. Auf diese Weise blieb sie „rein“ und konnte Priesterin in Athenes Tempel werden.

Caravaggio: Medusa, ca. 1597.

Gute Frauen, schlechte Frauen

Hier zeigt sich eine uralte Erzählstrategie: Die ideale Frau wird nicht nur als unglaublich schön beschrieben, sondern zusätzlich auch als fromm und möglichst asexuell.

Aber natürlich sollte die Geschichte noch eine Wendung nehmen: Eines Tages erregte Medusa die Aufmerksamkeit von Poseidon, dem Gott des Meeres. Obwohl sie ihn mehrfach zurückwies, verliebte er sich unsterblich in sie. In der Überlieferung interessiert es herzlich wenig, ob Medusa Poseidon interessant fand oder nicht: Wenn sie Priesterin des Tempels der Athene bleiben wollte, musste sie Jungfrau bleiben. Erzählstrategie Nummer zwei: Die Geschichte suggeriert, dass Medusa eine „gute“ Frau war, weil sie ihre Jungfräulichkeit bewahren wollte.

Harriet Hosmer: Medusa, ca. 1854.

Poseidon war Medusas Ablehnung allerdings egal. Er vergewaltigte und schwängerte sie. Für ihn hatte das jedoch keinerlei Konsequenzen. Erzählstrategie Nummer drei: Das Opfer wird bestraft. Athene, die sowieso in ewigem Wettstreit mit Poseidon stand, war außer sich vor Wut. Statt jedoch Rache an Poseidon zu üben, verfluchte sie Medusa wegen ihres vermeintlichen Verrats und verbannte sie auf eine einsame Insel. Medusas Haare verwandelte sie in giftige Schlangen. Jede Person, die Medusa in die Augen blickte, wurde augenblicklich in Stein verwandelt. Sie war nun nicht nur unheimlich hässlich, sondern konnte auch von niemandem mehr ungestraft angeglotzt werden. Und da wären wir auch schon bei Erzählstrategie Nummer vier und fünf: Hässlichkeit ist gleich Boshaftigkeit und Untreue wird bestraft.

All diese klassischen Erzählstrukturen machen deutlich, wie Geschichten dargestellt werden. Sie sind nicht nur verdammt vorhersehbar und nerven ganz schön, sie können auch gefährlich werden: Die Zuhörer*innen fangen an, in simplen Kategorien zu denken. Wie im Märchen gibt es die Guten und die Bösen, die Listigen und die Dummen, die Königinnen und die Bettler. Medusa ist in ihrer eigenen Lebensgeschichte die absolute Verliererin, hat allerdings nichts getan, was ihre Strafe rechtfertigt.

Ausschnitt aus Lucas Cranach d.Ä. und Werkstatt: Adam und Eva, um 1512.

Ein kurzes Wort muss ich auch noch zu den Schlangen verlieren. Schließlich ist es kein Zufall, dass Medusas Haare nicht Regenwürmer oder Aale waren. Letzteres hätte ja auch viel besser zu Poseidon gepasst. Kein Tier verkörpert das Böse so gut wie die Schlange – besonders im Christentum. Laut Altem Testament ist es die Schlange, die Eva dazu überredet, in den verhängnisvollen Apfel zu beißen, der für sie das Ende vom Paradies bedeutet. Mit ihren schlängelnden Haaren bekommt Medusa also automatisch den Stempel „teuflische Verführerin“ verpasst - kein Wunder, dass sich die Erzählung im christlichen Europa über Jahrhunderte gehalten hat.

Ende gut, alles gut?

Als wäre Medusas ungerechtfertigte Verdammnis nicht schon schlimm genug, mischt sich dann auch noch ein weiterer Typ in das Geschehen ein: Perseus. Die ganze Schlangen-Story hatte sich mittlerweile herumgesprochen und die Reptilienfrau mit dem tödlichen Blick verbreitete großen Schrecken. Nicht so bei Perseus. Der hatte am Hof von König Polydektes damit geprahlt, sogar Medusa besiegen zu können. Hätte er mal den Mund nicht so voll genommen: Kurzerhand erhielt er den königlichen Auftrag, loszuziehen und mit dem Kopf der Gorgonin wiederzukommen.

Flämische*r Maler*in: Medusas Kopf, ca. 1600.

Aber Perseus hatte Hilfe: Ausgerechnet von Athene – ja, der Athene, die Schuld an Medusas Schicksal war – erhielt er einen glänzenden Schild, der wie ein Spiegel das Bild zurückwarf. So musste Perseus Medusa nicht direkt in die Augen schauen und konnte trotzdem alles Wichtige erkennen. Es gelang ihm, mit Athenes Unterstützung, die Gorgonin zu finden, zu töten und zu enthaupten. Ihren Kopf nahm er mit und besiegte damit auf seiner Rückreise ganz nebenbei noch ein weiteres gefährliches Ungeheuer. Als er das Schlangenhaupt König Polydektes zeigte, versteinert auch dieser – Medusas Macht bestand bis über ihren Tod hinaus. Ihren Kopf schenkte Perseus Athene. Ende gut, alles gut. Oder?

Benvenuto Cellini: Perseus mit dem Haupt der Medusa, 16. Jh., CC BY-SA 3.0

Ein Fall von Female Empowerment? Naja ...

Alles in allem klingt die Geschichte von Medusa ziemlich tragisch. Wie kommt es also, dass sie zur Markenbotschafterin und Spielfilm-Ikone geworden ist? Versace betont in einem offiziellen Statement: „Albeit tragic, Medusa’s story is one of eternal beauty and defiant strength. She has come to represent unapologetic authority and female empowerment. Medusa is an iconic signifier of the powerful Versace woman.“

Irgendwo zwischen Vergewaltigung und Enthauptung hat sich anscheinend das Female Empowerment versteckt. Ja, Medusa hatte Macht. Hauptsächlich war sie jedoch ihr Leben lang ziemlich missverstanden.

Emily Mae Smith: Medusa, 2015, CC BY-SA 4.0

Die Geschichte von Medusa erzählt uns aber noch einiges mehr: Zum Beispiel, wie sich das Bild von „guten“ und „bösen“ Frauen formt – nicht nur in der Mythologie. Es geschieht nicht zufällig, dass hier zwei Frauen, Medusa und Athene, gegeneinander ausgespielt werden. Medusas Story erzählt von Macht und Ohnmacht, Täterinnen und Opfern, Männern und Frauen, Schönheit und Hässlichkeit. Ist es nicht interessant, dass eine wütende Frau mächtig und unbezwingbar scheint? Dass sich von ihr viele Menschen bedroht fühlen? Und dass sich eine Frau an der anderen rächt für etwas, was diese gar nicht zu verantworten hat?

Bis heute wird die Geschichte der Medusa extrem unreflektiert erzählt. Und trotzdem finden wir uns in ihr wieder und sind begeistert von dieser bösartigen, vielleicht auch irrationalen Frau. Auf Instagram habe ich euch gefragt, wann ihr euch das letzte Mal wie Medusa gefühlt habt. Eure Antworten reichten von kaputter Gastherme über PMS bis hin zur Steuererklärung. „Feeling Medusa“ bedeutet für euch also missverstanden, ungerecht behandelt, übertönt, wütend – oder eben einsam, wie in „Percy Jackson“. „Ich fühle mich heute so Medusa“, sollte definitiv in den allgemeinen Sprachgebrauch aufgenommen werden.

The „Nasty Woman“

Auch in der Gegenwart funktioniert das „Prinzip Medusa“ ziemlich gut. Frauen dämonisieren, das kann die Gesellschaft hervorragend. Besonders in der Politik, also einem Bereich, in dem Macht eine große Rolle spielt, ist Medusa eine gerngesehene Metapher: Ob Angela Merkel oder Theresa May – viele Politikerinnen wurden bereits als Medusa dargestellt, ihre Gesichter auf abgeschlagene Köpfe montiert. Eine Abbildung zeigt sogar Ex-Präsident Donald Trump als Perseus mit dem Kopf von Hillary Clinton in der Hand. Die Professorin Elizabeth Johnston hat in ihrem Essay „The Original 'Nasty Woman'“beschrieben, dass dieser Vergleich auf eine noch immer weit verbreitete Misogynie hinweist.

Peter Paul Rubens: Kopf der Medusa, ca. 1617.

Wenn es darum geht, Frauen zum Schweigen zu bringen, kann die westliche Kultur tatsächlich auf mehrere Tausend Jahre Übung zurückblicken. Johnston schreibt, dass Medusa häufig dafür herhalten muss, weibliche Führungspersonen zu dämonisieren. Das heißt, sie tritt immer dann in Erscheinung, wenn sich Menschen von weiblichen Autoritäten bedroht fühlen. Wenn jemand Widerworte gibt, unangepasst lebt oder nicht über sich bestimmen lässt, kann das schon ausreichen, um die Medusa-Karte zu spielen.

Umso schöner, wenn Medusa etwas ambivalenter dargestellt wird. Etwa in diesem kürzlich veröffentlichten Musikvideo von Jessovski. Darin begeben sich drei wagemutige Heldinnen auf ein großes Abenteuer. In mehreren Levels kämpfen sie gegen die Gefahren des Alltags. Ihr wisst schon, Drachen, Mansplaining und so weiter. Bis sie schließlich auf Medusa treffen.

Das Besondere: Die Schlangenlady wird hier nicht bekämpft oder sogar getötet, sondern gerettet. Tatsächlich wird sie nämlich selbst gefangen gehalten, was auch der Grund dafür ist, dass sie so verdammt wütend ist. Es stellt sich heraus, dass Medusa eigentlich eine sehr friedliebende Person ist – tatsächlich wirkt sie absolut umgänglich und ihre Schlänglein plötzlich ganz zahm. Das „Monster“, von dem die Welt befreit werden sollte, hatte in Wahrheit eine ganz andere Gestalt.

Godfried Maes: Medusa, 1680.

Medusa ist – das hat die Popkultur zum Glück längst verstanden – unglaublich facettenreichen: Sie ist nicht nur wunderschön oder nur abgrundtief hässlich. Sie ist kein Opfer und keine Täterin. Sie ist mächtig und trotzdem machtlos. Und sie ist wütend. Das ist das Faszinierende an ihr – und macht sie uns allen ähnlich.

Auch wenn Medusa nur eine Geschichte ist, ein Mythos, sollten wir immer daran denken, wer sich diese Geschichten ausgedacht hat, wer sie erzählt und was sie für uns heute bedeuten.

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