Warum jeden Tag „Nippelgate“ ist
Eine Kolumne über Doppelmoral und harte Brustwarzen
Kim Kardashians Brand Skims launcht einen BH mit eingebauten Nippeln. Grund genug, sich für Julia zu fragen, was es mit dem Trend auf sich hat
Kürzlich hatte ein neues Produkt die sozialen Medien fest im Griff: Kim Kardashians Label Skims launchte den Nipple Push Up Bra und die Menschen im Internet hatte eine Menge Meinungen. Der Großteil von ihnen war fassungslos oder hielt die ganze Aktion für einen Witz. Zur Erklärung: Der besagte BH lässt es so aussehen, als würden sich steife Brustwarzen durch das darüberliegende Oberteil drücken. In Wahrheit sind es allerdings nur kleine Kunststoffknubbel, die diesen Eindruck erwecken. Tatsächlich sind die Polster des BHs so dick, dass die natürliche Ausprägung der Brustwarzen oder der Effekt von Erregung oder Kälte niemals für die Außenwelt sichtbar werden können.
Bevor ihr fragt: Ich bin keinem Experiment abgeneigt und hätte den BH super gerne gekauft und selbst ausprobiert. Er war allerdings in Windeseile ausverkauft. Sofort kamen mir mehrere Situationen in den Sinn, in denen so ein Kleidungsstück ziemlich witzige Reaktionen hervorrufen könnte – Stichwort Vorstellungsgespräch. Gleichzeitig erinnerte ich mich, dass es in meiner Teenie-Zeit nichts Unangenehmeres gegeben hätte, als dass irgendein Teil der eigenen Brüste irgendwelche Aufmerksamkeit erregt. Und mit dieser persönlichen Meinung bin ich mit Sicherheit nicht allein.
Es waren die 2000er und Brüste hatten gefühlt noch ein anderes (hehe) Standing. Man denke allein an den Medien-Skandal, den Janet Jacksons „Nippel-Blitzer“ beim Superbowl 2004 ausgelöst hatte. Monatelang war der „Ausrutscher“, der Jacksons Brust samt Sonnen-Piercing präsentierte, in allen möglichen Zeitungen abgebildet. Mit diesem Eklat im Hinterkopf scheint es sehr fortschrittlich, dass 20 Jahre später genau das Gegenteil das Ziel sein könnte: Um jeden Preis Aufmerksamkeit für Nippel zu bekommen. Auch dann, wenn es gar nicht die echten sind.
Und dann fiel mir auf: Eigentlich hat sich gar nichts verändert. Jedes Jahrzehnt, jedes Jahr hat sein ganz eigenes „Nippelgate“. Damals sprachen alle von Janet Jackson, die vergangenen Jahre diskutierte man über Stillen im Café oder Oben-Ohne-Baden und heute sind es eben Skims-BHs, die im Zentrum der Gespräche stehen. Dass so ein BH überhaupt noch irgendwen zu einem müden Tweet inspiriert, zeigt, dass immer noch jeden Tag „Nippelgate“ ist. Aber gehen wir doch noch ein paar weitere Jahrhunderte zurück:
Give this boobs some rest
Man kann sagen, was man will, aber der Nippel gehört anatomisch gesehen zur Brust. Also macht es Sinn, sich das ganze Drumherum auch anzusehen. Und da haben wir auch schon den Salat. Es gibt nämlich unzählige Brüste in der Kunst und in der Kunstgeschichte sowieso. Deswegen kann ich hier wirklich nur ein paar wenige Beispiele heraussuchen. Eins meiner allerliebsten Busen-Werke ist von Sarah Goodridge (1788-1853). Die Künstlerin malte 1828 ihre eigenen Brüste, inszenierte das Bild in einer Schatulle und schenkte es dem Politiker Daniel Webster, der damals gerade frisch geschieden war. Webster heiratete zwar kurze Zeit später eine andere Frau, behielt dieses „Porträt“ aber bis zu seinem Tod.
Goodridges Gemälde veranschaulicht zwei Dinge: Erstens, dass das Versenden von Bildern nackter Körperteile definitiv kein modernes Phänomen ist. Zweitens zeigt es die berüchtigte Doppelmoral bei Brüsten: In der Öffentlichkeit Nippel zu zeigen, ist ein absolutes No-Go. Auch im Museum habe ich noch nie eine hemdlose Person gesehen. Wenn es um „hohe Kunst“ geht, nimmt man es damit aber nicht mehr so genau: Goodridges Busenpaar kann öffentlich im Metropolitan Museum of Art hängen und ohne Probleme bestaunt werden. Gut so!
Ein noch älteres Beispiel ist das Gemälde „Susanna und die Ältesten“ von Artemisia Gentileschi (1593-1654). Die Geschichte von Susanna ist eine biblische Erzählung und wurde von unzähligen Künstlern und auch einigen Künstlerinnen dargestellt. Man bediente sich hier eines ziemlich schlauen Kniffs: Wenn man eine religiöse oder heilige Szene zeigen wollte, war Nacktheit kein Problem. Susanna, die von zwei Männern beim Baden erwischt wird, war selbstverständlich nackt zu sehen. Was sonst verpönt war, wurde so salonfähig: So geht die Geschichte nun mal, Leute, kein Grund, hier Pornografie zu vermuten.
Und so gibt es unzählige Darstellungen von Märtyrerinnen, die ihre abgeschnittenen Brüste präsentieren oder Madonnen, die ihr Kind säugen und dabei deutlich ihren Nippel zeigen. Sogar in Stein gehauene Brüste zieren harte Brustwarzen. Unter dem Deckmantel „Symbol für das Aufziehen neuen Lebens“, waren die Nippel aber gleichzeitig immer auch Lustobjekt. Und so verschwamm die Unterscheidung zur Brust als „Nutzobjekt“ immer mehr. Und wer könnte es all den Maler*innen und Bildhauer*innen verübeln? Es sind ja auch wirklich spannende Körperteile. Aber meine Güte: Give this boobs some rest.
Ich habe dazu keine offiziellen Studien gefunden, bin mir aber sicher, dass es deutlich mehr Busen- als Vulva-Darstellungen in der Kunstgeschichte gibt. Bei diesem Overload an Brüsten wird es eigentlich erst viele Jahrhunderte später richtig spannend. Im 20. Jahrhundert nimmt die Sache erst richtig an Fahrt auf: Nippel werden jetzt auch mal anders dargestellt, nicht mehr nur neckisch und süß, sondern auch mal behaart oder so ulkig-verknödelt, wie sie eben manchmal aussehen. Die ewige Doppelmoral wird endlich aufgedeckt und die Betrachter*innen darauf hingewiesen, dass ein Nippel eben ein Nippel ist und wir seit Jahrhunderten eine ganze Menge Kram auf ihn projizieren.
Echte Nippel = Tabu, falsche Nippel = juhu?
Bis heute ist der Hype um die Brustwarze nicht verflogen. Kaum leistet sich irgendein Star einen „Nippel-Blitzer“, drehen die Klatschmagazine durch: Nippeltape verrutscht, oben ohne am Strand, Heidi Klums Brüste heißen Hans und Franz. Und wusstet ihr zum Beispiel, dass Harry Styles drei Brustwarzen hat? Nö, weil über Brustwarzen, die nicht an Busen hängen, kaum niemand spricht. Obwohl nahezu alle Menschen die gleichen Anlagen für Brustwarzen haben, gibt die Gesellschaft vor, welche interessant und welche weniger spannend sind. Welche verhüllt werden müssen und welche nicht.
Es scheint fast schon paradox, dass ein „Nipple Bra“ in Zeiten gelauncht wird, in denen noch immer ein Nippelverbot (für Busen) auf Instagram herrscht. Aber eigentlich ist der BH ziemlich bieder: Er hält alles an Ort und Stelle, pushed Körperteile in eine bestimmte Form und verspricht durch den Kunststoff-Knubbel falsche Freizügigkeit. Ein seltsames Zusammenspiel aus Prüderie und Frivolität. Und so dürfen auch die Models auf Instagram mit ihren vermeintlichen Brustwarzen kokettieren - der Post wird nicht gesperrt. Wer hier ein feministisches Statement vermutet, das ein Schritt Richtung Toleranz ist, liegt daneben. Denn der BH normalisiert die Brustwarze nicht, er inszeniert sie – und übersieht dabei eine Menge Zusammenhänge.
Wie und ob wir uns Nippel angucken oder sie zeigen wollen und können (!), zeigt, wo wir körperpolitisch gerade stehen. Gleichzeitig gibt es Aufschluss über Genderfragen und Machtverhältnisse. Für manche ist der „Nipple Bra“ vielleicht einfach nur ein BH, der den Kolleg*innen am Schreibtisch gegenüber ein seltsames Gefühl gibt. Für andere beinhaltet er die Frage nach kulturellen, gesellschaftlichen und historischen Kontexten und Möglichkeiten.
Berechtigtes Lob bekam der BH übrigens von Mastektomie-Patientinnen und Trans-Personen, die ihrem Oberkörper damit Form und (oft nicht (mehr) vorhandene) Nippel verleihen können. Fest steht jedoch: Die wenigsten Nippel sind immer hart. Ein BH, der das vorgaukelt, ist nur ein weiterer Tropfen im großen Fass der Busen-Mythen. Alles in allem ist es wieder ein bisschen zu viel Bohei um ein verdammtes Körperteil. Ich frage mich außerdem, welcher Trend als Nächstes kommt: Vielleicht ein BH, der Milcheinschuss vortäuscht? Oder einer, der die Brüste extra bis zum Bauchnabel hängen lässt? Die Familie Kardashian ist nicht unbedingt dafür bekannt, ihre Körper Körper sein zu lassen. Nach Kendall Jenners Brustwarzenkorrektur, Kim Kardashians Bubble But und zahlreichen Crash-Diäten darf man gespannt sein, welches Körperteil als nächstes de- oder reformiert werden soll.
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Header:Workshop of Rogier van der Weyden: Virgin and Child (Ausschnitt), 1460. Credits: Wikimedia Commons