Ich bin eine 10, aber hasse diesen Trend

Ich bin eine 10, aber hasse diesen Trend

Wie attraktiv bist du auf einer Skala von 1 bis 10? Und was beeinflusst diese Zahl?

Ein TikTok-Trend bringt das Schlechteste in uns hervor

In meinem Bekanntenkreis gibt es eine Person, die seit Jahren die Angewohnheit hat, potenzielle Partnerinnen mit Nummern zu versehen. „Genau mein Typ – eine klare 9“, tönt es dann in regelmäßigen Abständen. Oder: „Eher eine 7, aber sie ist wirklich nett”. Persönlich ist mir diese Praxis, ebenfalls seit Jahren, sehr unangenehm. Nicht nur, weil ich nie so richtig dahintergekommen bin, auf welchen Kriterien die Skala beruht, sondern auch deswegen, weil ich ungern Zeugin einer offensichtlich abwertenden Dating-Technik bin. Und weil ich glaube, dass diese Art von Kategorisierung niemanden langfristig zufrieden machen kann. Aber dazu später mehr.

Seit einigen Wochen gibt es nun einen Trend, der in exakt die gleiche Kerbe schlägt: Die Hashtags #HesA10But beziehungsweise #ShesA10But trenden wie verrückt, man kann sie auf den eigenen TikTok-Startseiten, Instagram-Feeds und Twitter-Timelines eigentlich kaum übersehen.

Worum geht es?

Das Phänomen, von dem ich spreche, hat sich mittlerweile auf alle möglichen Social-Media-Plattformen ausgeweitet. Ja, sogar auf Facebook ist der Trend mittlerweile angekommen. Die Posts, ob in schriftlicher Form oder als Videoformat, beginnen immer mit den gleichen Worten: She’s / He’s a 10, but…

Dann folgt eine random Eigenschaft, die die Punktzahl auf der Attraktivitäts-Skala wieder revidiert. Meistens handelt es sich dabei um ein Charaktermerkmal oder eine vermeintliche Schwäche der betreffenden Person. Zum Beispiel:

She’s a 10, but doesn’t know the difference between Gruyère and Camembert.
Oder: He’s a 10, but his favorite artist is Picasso.

Meistens, deswegen fühlte ich mich sofort an meinen Bekannten erinnert, geht es dabei um potenzielle Partner*innen. Der Trend impliziert: Es ist super schwierig – und gleichzeitig extrem wichtig –, jemanden zu finden, der physisch UND charakterlich eine 10/10 ist.

Von der 6 zur 9 – und wieder zurück

Relativ unvorhersehbar bei dem ganzen Rechenspiel ist die Zahl, in die sich die ursprüngliche 10 verwandelt: Wird er eine 7, weil er keine Katzen mag? Rutscht sie von einer 10 auf eine 5, weil sie Harry Potter besser findet als Herr der Ringe? Es bleibt jedem selbst überlassen, zu beurteilen, wie gravierend das jeweilige „aber“ denn nun ist. Fest steht nur: Eine 10 kann definitiv nur sein, wer komplett subjektive Anforderungen in vollem Maße erfüllt.

Übrigens funktioniert die Challenge natürlich auch andersherum: Von einer einstelligen Zahl kann man ohne Probleme auch in die Zweistelligkeit floaten, zum Beispiel:
Er ist eine 6, aber geht zur Therapie.
Oder: Sie ist eine 4, aber erbt ein Firmenimperium.

Soll heißen: Sie oder er sieht zwar nicht hammermäßig aus, hat aber andere Qualitäten, die sie oder ihn in eine „höhere Liga” katapultieren. Ich glaube, uns ist allen klar, dass dieses Spiel eindeutig von seiner Oberflächlichkeit lebt. Aber come one, es ist eben Social Media – wir können schon froh sein, wenn niemand planked, Waschmittelkapseln schluckt oder eine Überdosis Zimt verschluckt.

@brookealysha Makes things more ✨exciting✨ #fyp ♬ he mine - ◊

The Fun-Part

Wo wir auch schon beim Kern der Sache wären: Natürlich ist es unterhaltsam, zu sehen, welche Ausschlusskriterien oder Red Flags andere Menschen haben, wenn es um zwischenmenschliche Kontakte geht. Du magst es nicht, wenn Zigarettenstummel im Ausguss schwimmen? Wie lustig, ich auch nicht. Abneigung verbindet bekanntermaßen und wer weiß, wie viele Paare sich schon gefunden haben, weil sie gemeinsam irgendetwas blöd fanden.

Außerdem muss man lobend erwähnen, dass bei diesem Trend kein Mensch offen ausgegrenzt wird. Meistens. Bis auf einige wenige Ausnahmen bleiben die Beispiele fiktiv, es wird nicht klar erwähnt, wer denn nun gerne beim Autofahren popelt oder keinen einzigen Song von Harry Styles mitsingen kann.

Wie bei jedem viralen Phänomen gibt es natürlich auch Menschen, die die Thematik ironisch umkehren: Einige haben bereits auf sehr unterhaltsame Weise auf die Unsinnigkeit eines Personen-Ratings aufmerksam gemacht, indem sie zwar ebenfalls mit „She's a 10 but...” beginnen, dann aber völlig überraschend enden.

The Not-So-Fun Part

Und trotz allem, das merke ich selbst, fragt man sich unwillkürlich, welche Nummer man wohl selbst abbekommen würde und ob die eigenen Spleens oder Interessen Gründe für ein Up- oder Downgrade wären.

Menschen auf einer Skala von 1 bis 10 zu bewerten, ist etwas, was mich an meine frühe Teenager-Zeit erinnert. Damals erschien es uns besonders lustig, unsere Mitschüler*innen auf die gleiche Weise zu kategorisieren. Wer sieht am besten aus? Wer ist am nettesten? Und besonders interessant: Wer findet, dass ich gut aussehe? Wer findet mich am nettesten?
Rückblickend kann ich sagen, dass das eine durchweg ungesunde Einstellung zum Leben war, die ich gerne übersprungen hätte.

Ich droppe einfach mal ein paar Stichworte, die häufig mit der Bewertung von Menschen einhergehen: Klassismus, Ableismus, Lookismus, Ageismus, Sexismus, Rassismus. Konkret bedeutet das, dass Personen aufgrund von Eigenschaften wie Aussehen, Alter, finanziellem Stand oder Ethnie unterschiedlich eingestuft werden. Das nervt nicht nur, das grenzt auch aus – und ist besonders in Verbindung mit Social-Media-Trends ziemlich gefährlich.

Jetzt sagt ihr vielleicht: Julia, mach dir nicht ins Hemd, das ist ein verdammtes Spiel im digitalen Raum. Aber aus Fun and Games wird eben auch schnell mal Ernst. Die Zielgruppe von TikTok oder Instagram sind junge Menschen. Kinder, die das Kategorisieren anderer Kinder lustig finden und der Meinung sind, man könne das Spiel doch gerne auch mal im eigenen Klassenzimmer anwenden. Die total traurig sind, weil sie sich für eine 4 halten. Die glauben, sie müssten bestimmte Bedingungen erfüllen, um gemocht oder geliebt zu werden. Die denken, sie könnten nie jemanden finden, der sie als 10 einstuft.

Auf der einen Seite sehnen wir uns nach Realität auf Plattformen wie Instagram, auf der anderen Seite steuern wir mit gehissten Segeln gen Oberflächlichkeit. Oft verdeutlicht dieser Trend gleich mehrere Probleme: den Unwillen, sich mit Meinungen oder Ansichten auseinanderzusetzen, die nicht den eigenen entsprechen. Das Hinnehmen einer subjektiven Meinung als Konsens. Und das Widerstreben, vermeintliche Schwächen zu akzeptieren. Ja, Menschen schnarchen, habe ungewohnte Essgewohnheiten, seltsame Ticks oder Bildungslücken. Das macht sie allerdings nicht automatisch weniger attraktiv. Wer sich schon mal verliebt hat, weiß, dass Bewertungsskalas spätestens dann keine Rolle mehr spielen (sollten).

Wie ich den Trend doch noch lieben lernte

Moment! Eine Ausnahme gibt es allerdings. Die einzige mir komplett sympathische Verwendung dieser Challenge ist die, die mit Tieren zu tun hat. Denn unter dem Hashtag sammeln sich immer mehr Videos, die die fantastischen Eigenheiten von Hunden, Hamstern oder Hausschildkröten thematisieren. Auch öffentliche Institutionen sind schon auf die Challenge aufgesprungen, so twitterte der Zoo in Los Angeles beispielsweise über seinen Mähnenwolf Fenix und ein Aquarium aus Florida warb für seine Seekuh. Da bleibt nur zu sagen: 10/10, would recommend.

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