How to: Solidarität mit Jüdinnen und Juden
„Wie geht es dir?“ Eine Frage, die nach dem 7. Oktober wohl obsolet ist, wenn man Sarah Cohen-Fantl fragt
Wir sprechen mit der jüdischen Journalistin aus Berlin über ihr Leben nach dem Massaker
Dieses Interview erschien zuerst in Sarahs monatlichem Newsletter Politique Chic. Unbedingt abonnieren!
Wenn in Berlin wieder Häuser mit Davidsternen beschmiert werden, wenn Brandanschläge auf Synagogen verübt werden, kurz: wenn sich Jüdinnen und Juden nicht mehr sicher fühlen, spätestens dann ist klar: Manche Dinge sind nicht verhandelbar. Dazu gehört der unbedingte Schutz jüdischen Lebens. In den sozialen Medien tun sich derweil Abgründe auf, in denen die Hamas als Freiheitskämpfer verklärt werden. Angesichts der brutalsten Angriffe, Massenvergewaltigungen und Leichenschändungen, die die Hamas seit dem 7. Oktober verüben, ist diese Verklärung nichts anderes als brutaler Antisemitismus und Hetze.
„Der Angriff sei nicht im Vakuum geschehen“, sagte UN-Generalsekretär António Guterres. Was geschieht schon in einem luftleeren Raum? Alles hat eine Vorgeschichte. Aber ein solcher Angriff kann, ja muss, ohne Kontextualisierung verurteilt werden. Denn das erklärte Ziel der Hamas ist die Auslöschung jüdischen Lebens und des israelischen Staates.
Dabei schließt eine unbedingte Solidarität mit jüdischen Menschen nicht aus, auch Empathie mit Palästinenser*innen zu empfinden. Angriffe auf Zivilist*innen sind immer zu verurteilen. Auch Kriege haben Regeln. Es ist richtig, dass unabhängige Menschenrechtsorganisationen auch analysieren, ob Israel sich an diese hält.
Wie erleben Jüdinnen und Juden in Deutschland die Zeit nach dem Massaker? Darüber spreche ich mit der Journalistin Sarah Cohen-Fantl. Wir haben das Gespräch am 30. Oktober geführt.
Liebe Sarah, danke dass du dir die Zeit nimmst, für dieses Interview. Ich würde dich gerne fragen, wie es dir geht. Aber die Frage ist in diesen Zeiten vermutlich obsolet.
Diese Frage stellen wir uns Jüdinnen und Juden untereinander in dieser Form auch nicht mehr. Es geht uns allen gleich schlecht. Und das in Wellen. In der ersten Woche waren wir alle sehr geschockt und sehr ängstlich. Jetzt in der dritten Woche gehen wir wieder raus. Das muss man sich klarmachen: Es gibt Leute, die sind seit zwei, drei Wochen nicht mehr hinausgegangen. Auch wir haben unsere Namen an den Klingelschildern geändert. Wir haben seit dem 7. Oktober kein Uber mehr benutzt und haben unsere Namen in solchen Portalen geändert. Aber in der dritten Woche kommt langsam das Bedürfnis zurück, sich nicht verstecken zu müssen.
Kannst du sagen, was du dir von deinen deutschen Freund*innen wünschst?
Eigentlich ist es ganz einfach: eine Nachricht. Aber leider ist das nicht selbstverständlich. Fast alle meiner jüdischen (deutschen und nicht deutschen) Freund*innen berichten, dass sie von ihren nichtjüdischen Freund*innen nichts hören. So geht es mir auch. Und das bei Menschen, die ich mehr als die Hälfte meines Lebens kenne. Erst wenn ich sie darauf anspreche, kommen nette Worte zurück und Entschuldigungen, dass sie an mich gedacht haben, aber nicht wussten, was sie sagen sollen. Und ja: Es ist sehr komplex. Für manche ist es auch einfach weit weg und nicht Teil ihrer Lebensrealität. Aber nachdem wir sie darauf aufmerksam gemacht haben und sie sich die nächsten zweieinhalb Wochen wieder nicht gemeldet hatten, gibt es keine Ausrede mehr. Und da wiederholt sich die Geschichte: Die Leute fanden die Geschehnisse um 1933 vielleicht auch schlimm, aber sie haben zugeschaut. Und man hat das Gefühl, dass jetzt wieder alle zuschauen, anstatt aufzustehen und etwas dagegen zu tun.
In der vergangenen Nacht kam es in Dagestan zu dramatischen Szenen. Als ein Flugzeug aus Tel Aviv landete, stürmten Hunderte Männer den Landeplatz, bedrohten die israelischen Geflüchteten und riefen antisemitische Parolen.
Es ist wirklich der schlechteste Morgen, um dieses Interview zu führen, den man sich vorstellen kann, außer vielleicht der 7. Oktober, also der Tag des Massakers. Ich bin an einem Punkt, an dem ich kaum noch sprechen kann. Das Gehirn versucht immer wieder zu sagen: Das ist ein schlechter Film, das ist ein Albtraum, das ist nicht real, das kann nicht wirklich passieren. Die Bilder aus Dagestan haben mich sehr schockiert. Wir waren gestern bei einem Benefizkonzert. Das war sehr heilsam. Es war ein sicherer Ort für Jüdinnen und Juden und wir haben alle auf Hebräisch gesungen. Alle haben geweint und sich umarmt. Es wurde zaghaft gelacht und ich hatte das erste Mal wieder das Gefühl, wir stehen das durch, wir halten zusammen. Und dann mache ich das Handy auf und sehe diese Bilder aus Russland und bekomme eine Realitätserinnerung, wie schlimm im Moment alles ist.
Wie überträgt sich diese Realität in deinen Alltag?
Ich habe sowieso schon einen Koffer gepackt, mit vielen wichtigen Unterlagen, der immer griffbereit ist, für eine potenzielle Flucht. Heute habe ich ihn aktualisiert und Sachen für die Kinder eingepackt, Fotoalben hineingelegt, Goldschmuck. Fast gleichzeitig hat mir eine Freundin geschrieben, dass ich auf jeden Fall einen Reisepass und Bargeld dabei haben muss. Und so geht jeder Chat in diesen Tagen. Man bereitet sich auf das Schlimmste vor. Es ist sehr surreal, was da passiert.
Weißt du, wohin du mit deiner Familie gehen möchtest, wenn ihr euch dazu entscheidest, den Koffer zu benutzen?
Wir gehen dann nach Israel. Da ist es trotz Krieg am sichersten für uns. Wir haben auch kurz über Neuseeland nachgedacht oder darüber, bei Verwandten in anderen europäischen Staaten unterzukommen. Aber es ist so: Hier können wir der Polizei nicht restlos vertrauen. In Israel ist klar, dass die Polizei jüdisches Leben schützt. Es ist so einzigartig wie tragisch.
Immer wieder werden Stimmen laut, die sagen, der Terror der Hamas sei selbstverschuldet. Wie ordnest du das ein?
Es geht vielen nur darum, sich von der Schuld der Großeltern zu befreien. Und das macht sich die Hamas zunutze. Ich sage bewusst Hamas, denn natürlich unterstützen nicht alle Palästinenser*innen die Hamas. Aber Friedensangebote, auch solche, die eine Zweistaatenlösung beinhalteten, wurden in der Vergangenheit abgelehnt. Und diese Deutschen, die sich von ihrem German Guilt befreien wollen, die fühlen sich jetzt als unheimliche Freiheitskämpfer*innen, weil sie endlich etwas für die gute Sache, für die Palästinenser*innen tun und merken gar nicht, dass genau das Gegenteil der Fall ist.
Hier gilt wie immer: Bildet euch und schlagt mal ein Geschichtsbuch auf, statt nicht verifizierte Propagandaposts auf Instagram zu schauen! Die Hamas hält nicht nur die jüdischen Geiseln gefangen, sondern benutzt die eigene Bevölkerung als menschliche Schutzschilde. Es ist dringend notwendig, dass die westlichen Staaten gemeinsam gegen die Hamas vorgehen. Denn die Hamas ist nicht nur ein Problem für Israel, es ist ein Problem für die ganze westliche Welt. Jetzt werden plötzlich wieder Al-Qaida-Fahnen und Taliban-Fahnen bei Demonstrationen geschwenkt. Natürlich haben die es zuerst auf Jüdinnen und Juden abgesehen, aber die kommen doch genauso zu Frauen, die westlich leben. Zu Menschen, die leben, wie sie wollen, tanzen, wie sie wollen, lieben, wen sie wollen.
Beobachtest du auch hier eine Verallgemeinerung?
Natürlich wird dadurch antimuslimischer Rassismus geschürt und das ist ein Problem. In Deutschland werden alle Muslime wieder in einen Topf gesteckt und alle Menschen, die nicht „bio-deutsch“ aussehen, was natürlich völlig falsch ist. Und on top: Wer wird davon an Aufschwung gewinnen? Die AfD. Wer möchte nicht unter der AfD leben? Alle Jüdinnen und Juden, die ich kenne.
Häufig hört man den Vorwurf, man könne Israel nicht kritisieren, ohne als Antisemit*in zu gelten. Stimmt das?
Wenn du Israel als gesamten Staat kritisierst, ist das antisemitisch. Aber die Regierung und ihre Politik zu kritisieren, ist völlig legitim. Denn einige ihrer Mitglieder sind extrem rechts und rassistisch. Das kritisiere ich ja auch selbst, genauso wie Hunderttausende Israelis, die seit Monaten ununterbrochen gegen die Regierung demonstrieren. Wenn ich in all diesem Entsetzen etwas vorsichtig hoffnungsvoll formulieren darf, dann ist es, dass die Regierung, so wie sie war, keine Zukunft hat und ich hoffe, dass dies die Chance für eine neue, geeinte Regierung ist, die versteht, dass wir anders handeln müssen.
Wie siehst du die Frage nach einer Waffenruhe?
Solange der erste Satz nicht ist: Lasst die – Stand jetzt – 239 Geiseln frei, solange nicht auch von der UN Druck auf die Hamas ausgeübt wird, solange kann man keinen Waffenstillstand fordern. Es kann nicht sein, dass die Hamas die Bedingungen diktiert und 6000 gefangene Terroristen freipresst. Wir haben über 1000 Tote, über 5000 Verletzte, ganze Dörfer sind von der Hamas zerstört worden. Im Moment sollte die Hamas überhaupt keine Position haben, irgendetwas zu bestimmen. Und das Bittere ist, wenn die ganze Welt jetzt zusammengestanden und den Druck erhöht hätte, auch die UN, dann hätten wir eine viel größere Chance, die Geiseln zurückzubekommen. Dadurch, dass die UN den Fokus vor allem auf die Zivilist*innen in Gaza setzt, fühlen wir uns im Stich gelassen.
Und die vielen toten Zivilist*innen?
Niemand will, dass Kinder sterben. Natürlich müssen auch die unschuldigen Menschen in Gaza versorgt werden. Darüber brauchen wir nicht zu streiten. Aber es kursieren so viele Fakenews. Humanitäre Hilfe existiert vielleicht nicht in der Form, wie es die Menschen jetzt gerne hätten. Wir sind schließlich im Krieg. Die Israeli Defense Forces, kurz IDF, also das israelische Militär, ruft immer wieder dazu auf, in den Süden zu gehen, wo es noch Strom und Wasser gibt. Natürlich ist das grausam, aber es kann keinen Waffenstillstand geben, bevor wir nicht unsere Geiseln zurückbekommen. Und natürlich weiß ich, dass unsere Geiseln dabei auch getroffen werden können. Es ist nicht garantiert, dass sie überleben, wenn wir dort Raketen werfen oder schießen.
Wenn ich eine starke Ally sein will, wie unterstütze ich jüdisches Leben am besten?
Vielleicht liest du als Erstes die Jüdische Allgemeine. Das ist die größte jüdische Zeitung in Deutschland. Folge auch gerne anderen, internationalen jüdischen Organisationen, auf den sozialen Medien oder ihrer Onlinepräsenz. Geh zu den Mahnwachen vor den Synagogen. Sprich deine jüdischen Mitmenschen an und frage, ob jemand Unterstützung braucht. Und mach dir bewusst: Auch in Israel sind tausende Menschen evakuiert worden, sowohl aus dem Norden als auch aus dem Süden, die keine Häuser mehr haben, die keine Kinderbetreuung haben, die keine psychologische Betreuung haben. Es fehlt im Moment an allem, da ist Spenden so ziemlich das Einfachste, was du tun kannst. Und wenn du selbst nicht die finanziellen Mittel hast, dann teile die Spendenaufrufe mit Leuten, die helfen können. Und noch was: Melde Hate-Accounts auf den sozialen Medien. Das kostet kein Geld und dauert nicht länger als 20 Sekunden. Es ist so einfach und die Wirkung wäre so groß, wenn das jeder machen würde.
Danke für das wichtige Gespräch. Ich würde dir gerne einen schönen Tag wünschen, aber das fühlt sich falsch an.
Du kannst „Jom chasak“ sagen. Das ist Hebräisch und bedeutet „Hab einen starken Tag“ – und Stärke brauchen wir gerade alle.
Jom chasak, liebe Sarah!
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Fotos:Alumah