Beige goes Bundestag – Heute interviewt: Hakan Demir von der SPD

Beige goes Bundestag – Heute interviewt: Hakan Demir von der SPD

Jetzt stellt sich der Bundestagskandidat für die Berlin-Neuköllner SPD unseren Fragen

Jetzt stellt sich der Bundestagskandidat für die Berlin-Neuköllner SPD unseren Fragen

Es ist 2021 und in der Bundesrepublik Deutschland heißt es somit zum zwanzigsten Mal: Wahljahr! Nach unglaublichen vier Legislaturperioden und 16 Jahren geht die Ära Merkel zu Ende. Unsere Bundeskanzlerin hatte in dieser Zeit mit Wirtschafts- und Finanzkrisen, der Flüchtlingskrise, der AfD im Bundestag, dem Ausbruch des Coronavirus und gefühlten 3287 weiteren Problemen zu kämpfen.

Was ein großer Teil der Gesellschaft als größte Krise unserer Zeit und gleichzeitig kleinsten Punkt auf Merkels Agenda wahrnimmt, ist die Klimakrise. Obwohl es schon fünf nach zwölf ist, wird dieses Problem unser Leben und das politische Geschehen in der kommenden Legislaturperiode wohl mehr denn je beeinflussen.

Gerade deshalb wünschen sich viele Menschen eine Veränderung in der Regierung – ob es dazu kommt, ist noch unklar. Wir wollen in unserer Interviewreihe zur Bundestagswahl 2021 herausfinden, welche Themen die Parteien umtreiben und wie sie die Probleme unserer Zeit zu lösen versuchen. Deswegen haben wir uns bei jeder großen Partei eine Person mit einem Themenschwerpunkt ausgesucht und getroffen. Mit ihr haben wir über Wünsche, Ziele, Träume und Pläne gesprochen, aber auch kritisch diskutiert, was wir als Wähler*innen in der Zukunft fordern.

Denn wir wollen euch ein wenig durch den Dschungel der Parteipolitik helfen. Welche Partei passt zu euch und vertritt eure Ansichten und eure Zukunftsvision am besten? Welche Politiker*innen wollt ihr an der Spitze sehen?

Nachdem wir in der letzten Ausgabe mit Dorothee Bär von der CSU gesprochen haben, interviewt Felix in dieser Folge Hakan Demir, Bundestagskandidat der SPD für den Wahlkreis Neukölln. Er ist Mitglied des Landesvorstands der SPD Berlin und Co-Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt.

Eine ebenmäßige Ressourcenverteilung und generelle Chancengleichheit sind in Deutschland nach wie vor nicht gegeben. Was muss also getan werden, um soziale Gerechtigkeit umzusetzen, Mieten in Großstädten human zu halten und unsere Politik menschlicher zu gestalten? Was wollen die Sozialdemokrat*innen im Kanzleramt besser machen? Und wie steht Hakan eigentlich zu Olaf Scholz?

Credit: Jannis Chavakis

Hakan, welche drei Begriffe beschreiben die SPD am besten?

Sozial, offen, solidarisch. 

Und was ist der größte Irrtum, den Leute mit der SPD assoziieren?

Dass wir nicht links seien. 

Was glaubst du, woher kommt das?

Weil wir einige Fehler gemacht haben, die diese Interpretation zulassen. Hartz IV zum Beispiel.

Wie kommt man da wieder raus?

Indem man jetzt eine progressive Koalition auf Bundesebene aufbaut und Hartz IV durch ein Bürger*innengeld überwindet. Also das System ändert. Und das geht nur mit linkeren Parteien und nicht mit der Union. Das ist ein großes Ziel von uns und wir haben auch zugegeben, dass wir damals Fehler gemacht haben. Gleichzeitig wissen wir aber, dass wir das nun überwinden müssen. 

Wie bist du eigentlich zur Politik gekommen und wieso hast du dich damals für die SPD entschieden?

Als Kind habe ich geglaubt, dass nur Deutsche ohne Migrationshintergrund in Häusern wohnen bzw. welche haben dürfen. Es gab einen Zaun bei uns im Arbeiter*innenviertel und hinter dem Zaun hatten die Leute große Wohnungen mit Balkonen und wir eben nicht. Als Kind nimmt man diese Umstände einfach an und hinterfragt sie nicht. Als ich dann auf dem Gymnasium fast das einzige Kind aus einer Arbeiter*innenfamilie und mit Migrationshintergrund war, habe ich mich für meine Eltern geschämt. Ich habe verschwiegen oder gelogen, was meine Eltern beruflich machen. Das habe ich wenige Jahre später schon bereut und bin stolz darauf, was mein Großvater 1970 in Deutschland aufzubauen begann und bin auch auf meine Eltern stolz. Dass ihre Arbeit genauso wichtig und wertvoll ist wie jeder andere Job, sind Werte, die ich auf diese Weise gelernt habe. Meine Eltern waren schon immer Traditionswähler*innen der SPD und ich bin mit dem Wissen aufgewachsen, dass die SPD eine Partei ist, die auch auf Menschen wie meine Eltern achtet.

„ „Das Schöne am Arbeiten in der Politik ist die Verbindung zu Menschen. Man baut in kürzester Zeit Verbindungen zu so vielen Personen auf. Ich mache im Moment Tür zu Tür und stelle unsere Partei vor. Und wie herzlich die Gespräche teilweise sind, ist wirklich schön. Es geht um das Menschliche und das bereichert wirklich sehr.“ “

Was sind deine Themen als Bundestagskandidat, die du jetzt im aktuellen Wahlkampf platzieren möchtest?

Die großen Themen sind starker Sozialstaat, gerechte Bildungspolitik, soziale Klimapolitik und wehrhafte Demokratie. Beim ersten Thema geht es mir u.a. darum, Hartz IV zu überwinden. Ich bin persönlich dafür, dass wir einen Regelsatz von 600 Euro haben sollten sowie eine Kindergrundsicherung. In Neukölln lebt jedes zweite Kind in Armut. Aber die Kinder sind nicht arm, sondern ihre Eltern verdienen nicht genug. Deshalb setze ich mich auch für 12 Euro Mindestlohn ein und Tarifverträge zu stärken. Gerechte Bildungspolitik ist Ländersache, dort geht es viel um digitale Gerechtigkeit, Digitalisierung an Schulen vorantreiben. Das Geld ist da, die Frage ist nur, wie es die Schulen verwaltungstechnisch einfacher beantragen können.

Bei der sozialen Klimapolitik bin ich dafür, Lenkungswirkungen wie z.B. durch höhere CO2-Steuern einzuführen. Dabei sollten jene Menschen zahlen müssen, die viel fliegen und die es nicht kümmert, wenn der Strompreis steigt, während alle, die wenig CO₂ emittieren, das über einen Pro-Kopf-Bonus zurückbekommen, sodass es zu einem sozialen Ausgleich kommt. Zum Thema Demokratiestärkung: Auch hier im hippen Norden von Neukölln gibt es eine sehr starke rechtsextremistische Gefahr. In den letzten Jahren gab es hier mehrere Anschläge auf Politiker*innen, Geschäfte und es gibt unaufgeklärte Morde, bei denen ein rechtsextremistischer Hintergrund vermutet wird. Aus diesem Grund sollten wir eine Rassismusstudie machen, nicht nur bei der Polizei, sondern gesamtgesellschaftlich. Und wir sollten ein Demokratiefördergesetz einführen, damit alle Organisationen, die sich für Demokratie einsetzen, dauerhaft finanziert werden. 

Und wenn du einen politisch beeinflussbaren Umstand in Deutschland sofort ändern könntest - welcher wäre das?
Ich würde die Vermögensungleichheit deutlich verringern. Weil das dazu führen würde, dass wir stärker zusammen halten und uns mehr für andere Themen wie Klimapolitik einsetzen würden. 

Wann hast du das letzte Mal deine Meinung über ein politisches Thema verändert und worum ging es dabei? 
Ich wurde bereits vor Jahren davon überzeugt, dass Klimapolitik und Soziales zusammengehören. Davor habe ich entweder nur das eine oder nur das andere gesehen. Aber es kommt darauf an, diese Themen gemeinsam voranzubringen. 

Der aktuelle Wahlkampf steht im Zeichen unserer abdankenden Kanzlerin und man hat das Gefühl, dass sich auch nach der Ära Merkel viele Menschen vorrangig nach Stabilität sehnen. Einige sagen, dass es auch deshalb gerade gut um Olaf Scholz steht. Weil er ein bekanntes Gesicht ist und sich im Gegensatz zu Baerbock und Laschet zurücklehnen und dadurch glänzen kann.

Klar profitieren wir von den Fehlern der anderen. Aber Olaf Scholz steht auch für eine bestimmte Politik: Wenn wir sagen, dass wir den 12 Euro Mindestlohn wollen, dann glauben uns die Leute, dass wir das im Amt sofort umsetzen. Ich denke auch, dass man uns glaubt, wenn es um Respekt geht. Dass man sich nicht schämen muss für die Arbeit, die man verrichtet. All diese Sachen verkörpert Scholz meiner Meinung nach, er ist ein klassischer Sozialdemokrat. Natürlich gibt es Leute, die ihn kritisch sehen, aber auch er hat sich in den letzten Jahren verändert. Zum Beispiel in Hinblick auf die schwarze Null oder Hartz IV. Dass Veränderung bei Menschen möglich ist und passiert, das kommt gut an. 

Was ist der beste und unangenehmste Aspekt am Arbeiten in der Politik?

Das Schlimmste sind die Anfeindungen. Von runter gerissenen Plakaten bis hin zu Briefen, dass man mich nicht wählt, weil ich kein Deutscher sei. Vom Format her „Sehr geehrter Herr Demir“ und „Mit freundlichen Grüßen“ aber trotzdem sind solche Aussagen natürlich rassistisch. 

Das Schöne am Arbeiten in der Politik ist die Verbindung zu Menschen. Man baut in kürzester Zeit Verbindungen zu so vielen Personen auf. Ich mache im Moment Tür zu Tür und stelle unsere Partei vor. Und wie herzlich die Gespräche teilweise sind, ist wirklich schön. Es geht um das Menschliche und das bereichert wirklich sehr. 

Gerne möchte ich dich noch zu deinem Stadtteil Berlin-Neukölln befragen. Dieser Bezirk ist wahrscheinlich das extremste Beispiel für Gentrifizierung, steigende Mieten, Verdrängung. Allerdings regiert hier und in ganz Berlin schon seit vielen Jahren die SPD. Wie konnten diese Problematiken unter eurer Führung derartig zunehmen?

Ich glaube, das große Problem war die Fehleinschätzung, dass wir vor ca. 15 Jahren landeseigene Wohnungen verkauft haben. Weil aber damals das Wachstum der Stadt noch nicht dermaßen gegeben war. Seit ungefähr 2010 sind jährlich 40.000 Menschen nach Berlin gezogen und das hat man nicht kommen sehen. Jetzt kaufen wir teilweise Wohnungen zurück, was sehr teuer ist. Es war also eine Fehleinschätzung, ohne die wir es jetzt einfacher hätten. Aktuell ist das Problem, dass es generell wenig bebaubare Flächen gibt und einige, die wir nicht bebauen wollen, wie das Tempelhofer Feld. Auf Bundesebene kommt hinzu, dass wir wegen der langen Regierungszeit der CDU keine gute Bodenpolitik hinbekommen. Es gibt zu viele Spekulant*innen, die Boden besitzen und nicht bauen, weil sie genau wissen, dass der Wert in den nächsten Jahren enorm steigen wird. Da die SPD jetzt die Chance hat, auch auf Bundesebene zu regieren, haben wir die Möglichkeit, dort den Mietendeckel einzuführen. Und alle Akteur*innen des Wohnungsmarkts zusammenzubringen, um zu schauen, wie wir jährlich 400.000 Wohnungen schaffen, 100.000 davon Sozialwohnungen. Und wir wollen die Wohnungsgemeinnützigkeit wieder einführen, ein Investitionsprogramm, mit dem jene Marktakteur*innen gefördert werden, die dauerhaft günstigen Wohnraum anbieten möchten. 

Andere Parteien sagen an dieser Stelle natürlich, dass es der falsche Weg ist und stattdessen wirtschaftliche Freiräume das Problem lösen werden. 

Die Vergangenheit hat gezeigt, dass sich der Markt nicht selber regelt und der Wohnungsmarkt erst recht nicht. Wohnraum ist kein Warengut, sondern ein Menschenrecht und es muss deshalb ganz anders betrachtet werden. Würde der Markt frei agieren, führt das dazu, dass viele Menschen aus Neukölln verschwinden müssen. Für einige Menschen ist das dann wirtschaftlich interessant, aber es führt zu sozialen Verwerfungen, die auch die Zusammensetzung unserer Gesellschaft gefährden. Wir wollen keine Innenstadt nur für Superreiche. Leute, die hier aufgewachsen sind und schon lange leben, sollen hier wohnen bleiben können. 

„ „Wie kriegen wir es hin, dass Jugendliche Resilienz aufbauen und vor radikalem Gedankengut geschützt sind? Man muss eigentlich schon in den Kitas anfangen, wo die Moralentwicklung beginnt und dort Demokratie, Perspektiven, Kooperation einüben.“ “

Das SPD-Wahlprogramm legt einen Fokus auf die Bekämpfung von Hass und Rechtsextremismus. Bisherige Strategien scheinen bei diesem Thema nur sehr bedingt zu greifen, da die Problematik leider nach wie vor sehr prominent ist. Du bist Co-Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt. Was sagst du, wo setzt man hier am besten an?

Letztes Jahr wurde in Berlin das Antidiskriminierungsgesetz verabschiedet, das das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz auf Landesebene stützen soll. Es ist historisch, weil es das in keinem anderen Bundesland bisher gibt. Wir schauen uns damit auch Schulen und die Verwaltung an. Wenn dort jenseits der arbeitsrechtlichen Ebene diskriminiert wird, kann man jetzt gegen diese Strukturen klagen, z.B. wenn es um Racial Profiling geht. Das ist die gesetzliche Ebene.

Auf der gesellschaftlichen kulturellen Ebene müssen wir Bildungsarbeit leisten, von Grund auf. Wie kriegen wir es hin, dass Jugendliche Resilienz aufbauen und vor radikalem Gedankengut geschützt sind? Man muss eigentlich schon in den Kitas anfangen, wo die Moralentwicklung beginnt und dort Demokratie, Perspektiven, Kooperation einüben. Und wir brauchen das Demokratiefördergesetz, damit politische Bildungsarbeit gestärkt wird und das am besten an jeder Schule. Zusätzlich müssen jetzt die Polizei und Sicherheitsbehörden gestärkt werden, was gruppenspezifische Menschenfeindlichkeit angeht. Damit die Polizist*innen eine gewisse Sensibilität und Aufmerksamkeit für dieses Thema mitbekommen. Trotz alledem habe ich nicht die Antwort, wie wir eine Gesellschaft hinbekommen, die nicht zu 10 Prozent rechtsextreme Ansichten hat. Ich gebe mich damit aber nicht zufrieden und versuche, dem durch politische Maßnahmen entgegenzuwirken. 

Zum Abschluss noch folgende Frage: Wie kriegt man mehr Menschlichkeit in das politische Geschehen?

Ich erinnere mich an Annegret Kramp-Karrenbauer, als unsere 600 Soldat*innen aus Afghanistan zurückkamen und sie den Brigadegeneral umarmt hat. Das ist ein menschlicher Akt. Immer, wenn Bürger*innen sagen, sie verstehen uns Politiker*innen nicht, hat das viel damit zu tun, dass wir emotional distanziert sind. Das heißt nicht, dass man alle umarmen muss, aber es zeigt, dass du nach außen zeigen solltest, was das Gespräch mit einer Person mit dir macht.

Wenn Pflegekräfte unter Tränen Politiker*innen erzählen, wie es ihnen in der Coronakrise geht, und da regt sich nichts, fehlt da jegliches Menschliche. Die Politik treibt dich in das Perfekte, das man auf jedem Foto so und so stehen muss, aber ich glaube, dass es mein Anspruch bleiben muss, so zu bleiben wie ich bin. Wenn man das schafft, dabei ehrlich bleibt und gewisse Werte hat, dann werden es die Menschen verstehen. Und es geht viel, indem man Vorbilder schafft: Ich glaube, dass Malu Dreyer so eine Person ist. Für viele ist auch Merkel ein Vorbild, weil sie in ihrem Umgang eine politische Kultur der Wertschätzung etabliert hat. Und Fairness, Wertschätzung und Ehrlichkeit sind das, was mich letzten Endes antreibt, um ein Vorbild zu sein. 

Vielen Dank für das Interview und deine Zeit, lieber Hakan!

  • Fotos:
    Max Neudert

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