Der verzerrte Blick ins Schaufenster
Wieso Unternehmen dringend ihre Berührungsangst mit adaptiver Mode verlieren sollten
Wieso Unternehmen dringend ihre Berührungsangst mit adaptiver Mode verlieren sollten
Kleider machen Leute. Aber die Leute, die die Kleider machen, haben dabei nicht alle im Blick. Makellos sollten die Kund*innen sein. Und reich. Wer den traditionellen Idealmaßen nicht entspricht, hat es folglich schwer in der Modewelt – und das nicht nur als Model, sondern auch beim alltäglichen Shopping.
Im November habe ich bereits darüber geschrieben, weshalb Fashion Brands ihren Umgang mit Konfektionsgrößen überdenken sollten. Zum Artikel kommt ihr hier. Nun geht die Reihe weiter. Denn natürlich ist es absolut notwendig, dass Labels Mode für JEDEN Körper machen – und körperliche Diversität meint eben nicht nur Plus-Size! In Deutschland leben laut dem Statistischen Bundesamt 10,24 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Das entspricht einem Bevölkerungsanteil von 12,3 Prozent. Doch wenn ihr durch die Innenstädte bummelt, wie häufig seht ihr Schaufensterpuppen, die im Rollstuhl sitzen? Wo habt ihr schon einmal Kleidung für Kleinwüchsige gesehen? Richtig! Vermutlich gar nicht.
Sucht man in der Werbung oder auf den Fashion-Shows nach Models mit Behinderung, sieht das vereinzelt anders aus. Zwar sind disabled Models da auch eine Seltenheit, aber immer wieder gibt es Ausnahmen. So bucht beispielsweise das Lable The Blonds Jillian Mercado für den Runway der New Yorker Modenschau. Aufgrund von Muskeldystrophie nutzt das Model einen Rollstuhl zur Fortbewegung. Auch in der Werbung finden sich inzwischen hin und wieder Models, die eine Behinderung haben. Gucci Beauty wählte 2020 Ellie Goldstein und mit ihr ein Model mit Downsyndrom als Gesicht für die Luxusmarke.
Auch Stylist*innen spielen in Repräsentations- und Sichtbarkeitsfragen eine bedeutende Rolle. Die Stylistin Stephanie Thomas hat sich auf das Styling von Menschen mit Behinderung spezialisiert und bereits große Kampagnen für z.B. Nike oder Zappos umgesetzt. Durch ihre Arbeit empowert sie die Community und macht wichtige Bildungsarbeit für die Modeindustrie. Hier ist in den letzten Jahren bereits ein Stein ins Rollen gekommen und insbesondere die sozialen Medien haben dabei eine wichtige Rolle für die Repräsentation gespielt.
Es war also nur eine Frage der Zeit bis das, was wir bereits vom Green- oder Pinkwashing (Anm. d. Redaktion: XXX) kennen, auch in Bezug auf das Abbilden diverser Körperbildern in die Mode kam. Wenn z.B. ein able-bodied Model neben einem Model mit sportlicher Beinprothese steht und beide den gleichen Hoodie tragen, dann ist dieses Bild für die Konsument*innen der Werbung ziemlich bequem. Diese Marken springen damit auf den Zug des sogenannten Disability Mainstreamings auf, in dem eine Gleichbehandlung von Menschen mit und ohne Behinderung suggeriert wird. Bestehende (unbequeme) Unterschiede werden galant unter den Teppich gekehrt, denn ansonsten sollen Menschen mit Behinderung in der Modewelt vor allem eins sein: unsichtbar.
Dass dies an der Lebensrealität sowie den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung vorbei geht, ist dabei nebensächlich und genau hier knüpft die Arbeit der kleinwüchsigen Aktivistin, Dozentin und Autorin Sinéad Burke an. Ihre wichtigste Forderung ist deshalb, mit Betroffenen ins Gespräch zu kommen. Denn dort liegt die geballte Expertise! Was längst eine Selbstverständlichkeit sein sollte, passiert leider viel zu selten.
Denn unterschiedliche Behinderungen haben unterschiedliche Bedürfnisse in Hinsicht auf die Kleidung. Während es für Rollstuhlfahrer*innen spannend ist, Oberbekleidung von Schaufensterpuppen oder auf dem Runway im Sitzen präsentiert zu bekommen (denn natürlich werfen die Kleidungsstücke dann andere Falten als im Stehen!) und lange, weite Ärmel dazu prädestiniert sind, sich in den Rädern zu verheddern, ist enge Kleidung für viele Menschen mit Prothese unpraktisch bis unmöglich zu tragen. Auch die Auswahl für kleinwüchsige Menschen ist verschwindend gering. Shoppen in der Kinderabteilung ist nicht nur aufgrund kindlicher Muster keine Option, sondern auch aufgrund der kindgerechten Schnitte, die nicht auf Rundungen erwachsener Menschen ausgelegt sind. Hier ist das Einkaufen also stets mit teuren Maßanpassungen verbunden.
Foto: Jakob Gsöllpointner für MOB Industries.
So könnte ich nun noch eine lange Liste an den Problemen anfügen, die den entspannten Shoppingtag mit der besten Freundin für Menschen mit Behinderung quasi unmöglich machen. Doch die genannten unterschiedlichen Bedürfnisse zeigen exemplarisch, weshalb viele Modeunternehmen sich davor scheuen, auf Masse zu produzieren. Denn eine genormte Linie für Menschen mit Behinderungen kann es so nicht geben. Zumindest nicht, bis in der Modeindustrie einmal Geld in die Hand genommen wird, um eben die dafür notwendigen Daten zu sammeln. Doch das ist aufwendig und teuer.
Was entstehen kann, wenn man genau in diese Art der Forschung investiert, sieht man bei dem Label AUF AUGENHÖHE. Seit 2013 kämpft Sema Gedik, die Gründerin des Modelabels für Kleinwüchsige, dafür, die Forschung von Designprodukten für kleinwüchsige Menschen voranzubringen und hat selbst regelmäßig kleinwüchsige Menschen vermessen. Vier Jahre später folgte der Launch des eigenen Labels, mit einer ersten Konfektionstabelle. Denn Mode ist immer Ausdruck von Unabhängigkeit und „ein Medium für gesellschaftliche Zugehörigkeit“, so Gedik. Zu dieser Unabhängigkeit gehört auch, dass die Kleidung ohne fremde Hilfe an- und ausgezogen werden kann. Bei anderen körperlichen Beeinträchtigungen reichen dafür manchmal auch schon kleine Änderungen, wie z.B. weitere Öffnungen, sodass die Kleidung einarmig gewechselt werden kann.
Foto: Anna Breit für MOB Industries.
Inzwischen gibt es Labels, die sogenannte adaptive Kollektionen entwickeln und mit ins Programm aufgenommen haben, wie zum Beispiel Tommy Hilfiger. Das Wiener Label MOB ist hier Vorreiter und verarbeitet z.B. Magnetleisten unter den Knöpfen, damit die Kleidung mit einem drüber-Streichen verschlossen werden kann, ohne dicke Knöpfe durch enge Löcher fummeln zu müssen.
Diesen Ansatz verfolgt auch die Designerin Lucy Jones. So zitiert Osman Ahmed sie in dem Artikel „It’s Time for Adaptive Fashion“, für Business of Fashion wie folgt: „I don't call what I do adaptive fashion. The focus is design for all, whether they are disabled or not.“
Und genau darum sollte es doch gehen!
Leider fällt das Fazit meiner Recherche ernüchternd aus: Die Modewelt ist ableistisch. Sehr. Menschen mit Behinderung müssen sich meistens mit Kleidung zufriedengeben, die nicht richtig passt oder aufwendig (und teuer!) maßanpassen lassen.
Betroffene, also disabled Menschen, werden von der Modeindustrie bisher nur in Ausnahmefällen zur Beratung gebucht. Dabei wäre genau das wichtig, um entsprechend auf die Bedürfnisse eingehen zu können. Wenige haben das bisher verstanden. Doch die, die es tun, haben großartige Kollektionen erschaffen. Am Ende bleibt die zentrale Forderung – wie so oft: Repräsentation und Sichtbarkeit!
Hier findet ihr ein paar Labels, die bereits tolle adaptive oder spezialisierte Kollektionen führen:
- Auf Augenhöhe: Das Lable produziert Kleidung für kleinwüchsige Menschen und setzt damit ein Zeichen für gleichberechtigte Teilhabe und Diversität in der Modewelt. Auf Augenhöhe sieht Mode als Medium für gesellschaftliche Zugehörigkeit und ist ein stilvoller Multiplikator für eine neue Modeindustrie.
- Mob Industries: Praktische Funktionalität trifft modischen Anspruch! Das Wiener Lable MOB Industries entwickelt die Pieces gemeinsam mit Rollstuhlnutzer*innen und jungen Modelabels, um so zu gewährleisten, dass die Produkte tatsächlich inklusiv und barrierefrei sind. Hier ist der Name MOB (= „Mode ohne Barrieren“) wirklich Programm!
- Tommy Hilfiger: Die Tommy Adaptive Kollektion ist fester Bestandteil im Programm bei TH. Entworfen, um ein unabhängiges Leben zu unterstützen und das Anziehen für jeden zu erleichtern, wird sie nun jede Saison weiterentwickelt. Dabei helfen Forschungsworkshops und viele E-Mails mit Feedback, der Menschen, die die Kollektion tragen.
- Zappos bietet eine große Auswahl adaptiver Mode. Außerdem kann hier ein einzelner Schuh ebenso bestellt werden wie Schuhpaare mit zwei unterschiedlichen Größen. Ein Angebot, das zeigt, wie simple Innovation sein kann!
- Nike: Auch bei Nike Adapt dreht sich alles um die perfekte Schuh-Passform. Dafür wurde ein Schnürsystem entwickelt, das sich der Form des Fußes elektronisch anpasst.
- FFORA: „Disability first - made adaptable for all” – das Motto von FFORA verdeutlicht den Fokus des Lifestyle und Accessoires Labels. Das funktionale und ästhetische Design, welches die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen konsequent priorisiert, umfasst z.B. Rollstuhl-Halterungen für Coffee Cups, Caps und Taschen und ich habe mich direkt in die Designs verliebt!
Dieser Artikel ist Werbung, da er Markennennungen enthält.
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Fotos Header & Home:Anna Breit