Mit Hochstapelei zur eigenen Netflix-Serie

Mit Hochstapelei zur eigenen Netflix-Serie

In aller Munde: „Inventing Anna“

Team BEIGE diskutiert: Ist es okay, dass Netflix die Filmrechte von einer verurteilten Verbrecherin abkauft?

In wenigen Tagen unseres Lebens haben wir als Team BEIGE einer Hochstaplerin viel Zeit gewidmet. Die Rede ist von der Netflix-Serie „Inventing Anna“, die gerade in Deutschland zu den erfolgreichsten Formaten beim Streaming-Dienst gehört. Darin geht es um Anna Delvey, oder sollten wir besser sagen Anna Sorokin, die sich in die New Yorker High Society schummelt, mithilfe diverser Gönner*innen und Banken und einem nicht vorhandenen Treuhandfonds ein Unternehmen gründen möchte und am Ende für die Betrügerei ins Gefängnis muss.

Klingt wie Fiktion? Ist es aber nicht! Denn Anna Sorokin gibt es wirklich, Netflix hat ihr die Rechte ihrer Geschichte abgekauft und damit quasi die Schulden bei ihren Gläubiger*innen abgezahlt. Und genau das lässt uns stutzen!

Marie: Findet ihr nicht, dass es verwerflich ist, dass Netflix einer verurteilten Verbrecherin eine Plattform bietet und sie sogar bezahlt? Netflix hat ihr 320.000 Dollar überwiesen, knapp 200.000 Euro davon zahlte sie als Entschädigung an ihre Opfer. Der Rest ging angeblich für Anwaltskosten drauf.

Lea: Ich finde es moralisch fragwürdig, weil ihre Darstellung in der Serie meiner Meinung nach nicht realitätsnah ist. Ich habe den Fall schon intensiv verfolgt, seitdem er 2017 mit der Festnahme publik ging. Nach meiner damaligen Recherche habe ich sie wie eine Betrügerin gesehen – in der Serie wird ihr ja eine viel tiefere Bedeutung zugeschrieben. Dort verkörpert sie dann, wie schwer es junge Frauen oft haben an Investments zu kommen, was ihr in echt aber nie ein Anliegen war. Zumal es in ihrem Fall ja nicht am Alter oder Geschlecht lag.

Sarah: Ich glaube auch, dass Anna sehr positiv dargestellt wurde, weil viele in ihr eine Art „Heldin“ sehen. Schaut euch mal die Kommentare bei Insta an: #teamanna ...

Marie: Und eben das macht es ja so gefährlich: Netflix hat, mit dem „Tinder Schwindler“ wurde es mir zum ersten Mal klar, ja so einen Hype um echten Betrug geschaffen. It-Girls sind nicht mehr genug, jetzt musst du von der Polizei gesucht werden oder am besten schon im Gefängnis sitzen! Ich finde auch, dass die Netflix-Produktion viel zu glimpflich mit ihr umgeht und sie in ein sehr gutes Licht stellt ...

Sarah: Ich wette, das hat Sorokin so ausgehandelt. Sie hat ja NIE aufgehört, sich zu inszenieren und ihre Persona weiterzuspinnen. Wenn man die Artikel über sie liest und ihren Insta-Account anschaut: Sie spielt weiterhin die Rolle, um genau das zu bekommen: eine Bühne, Ansehen, Geld. Sie ist nie aus der Rolle der Anna Delvey rausgefallen. Gab es eine Art ehrliches Geständnis von ihr mit Entschuldigung?

„ Verkauft sich halt noch besser, wenn man in einer Story noch etwas performative feminism einwebt. “

Sarah

Lea: Die Frage ist dann nur im Umkehrschluss: Fänden wir die Netflix-Produktion und ihren Verdienst daran moralisch nicht verwerflich, wenn man ihre Persönlichkeit darin in schlechteres Licht gerückt hätte?

Marie: Tja, ich glaube, der entscheidende Unterschied für mich wäre gewesen, wenn sie aus der wahren Geschichte mehr Fiktion gemacht hätten – und keine Reality Soap. Ich finde es sehr befremdlich, dass man die echte Person dann auf Instagram findet, ihr folgen kann etc.

Sarah: Verkauft sich halt noch besser, wenn man in einer Story noch etwas performative feminism einwebt. Auch, wenn es Anna NULL darum ging. Keine Ahnung, worum es ihr ging oder was sie so denkt, da sie nicht im Geringsten durchsickern lässt, wer sie ist.

Lea: Das finde ich auch wahnsinnig gruselig – irgendwie steht sie auch nach intensiver Betrachtung nur für so wenig und lässt nichts tiefgehendes durchsickern.

Sarah: Im Grunde soll ja die Moral der Geschichte sein: Es gibt keine Chancengleichheit, eat the rich etc. Ich würde das eventuell ansatzweise glauben, wenn Netflix oder Anna einen Teil der Einnahmen an eine Organisation spenden würde, die sich für Chancengleichheit einsetzt.

Sarah: Um Maries Frage vom Anfang zu beantworten: Ich find das Ganze sehr moralisch verwerflich. Yes, I would #eattherich, aber nicht, damit ich mir die neuesten Balenciaga-Treter holen kann und in Luxus-Hotels Dom Perignon zu trinken. Hier wird nur dem Lebensmotto „Fake it til you make it“ gehuldigt und gezeigt: Sieht dein Insta-Account expensive aus und trägst du die richtigen Sachen, bist du angesagt. Wer du wirklich bist, juckt keine Sau.

Marie: Und was denkst du, wer hat diesen Hype befeuert? Die Journalistin, die darüber den Artikel geschrieben hat? Social Media? Oder doch Netflix und Shondaland?

Sarah: Ehrlich? Die Kardashians. Oder alle plus die Kardashian/Jenners: Die Journalistin hat eine Story gewittert und über etwas geschrieben, was es in dem Ausmaß noch nie (?) in der New Yorker High Society gab. Social Media hat den Betrug erstens glaubhaft aussehen lassen und zweitens das Momentum gegeben. Netflix und Shondaland sahen ihre Chance daraus Profit zu schlagen; Netflix hat zuletzt schlechte Quartalszahlen verlauten lassen ... die brauchen gute Storys, die die Leute interessieren. Die Kardashian/Jenners jedoch haben aber den Hype um die süßen Versprechungen des „Reich seins“ erschaffen.

„ Da ist ja jede zweite Influencerin mehr „Lifestyle-Schwindel“ ... “

Julia

Marie: Das amerikanische und deutsche Gesetz verbietet ja auch, aus seinem eigenen Verbrechen Profit zu ziehen. Frage: Ist Instagram-Fame nicht auch eine Art des Profits? Müsste man Sorokins Profil nicht löschen? Wieso gibt es da keine Instanz? Wieso darf Netflix die Serie dann überhaupt produzieren und ihr Geld überweisen?

Lea: Bei Anna war es ja so, dass das gesamte Geld dazu diente, ihre Anwälte und Schulden zu bezahlen. Übrig hat sie davon nichts, nur deshalb konnte sie das Gesetz umgehen.

Marie: Leben wir denn wirklich in einer Welt, in der wir so überflutet werden mit Fiktion und Fakes, dass uns nur noch „echte” Stories begeistern können? Zieht Fiktion einfach nicht mehr?

Lea: Ich glaube, im Bereich Crime war es schon immer so, dass echte Storys den Entertainmentfaktor erhöht haben, oder? Allerdings genieße ich hier schon auch eher dokumentarisch aufgebaute Serien – das Format um den „Tinder-Schwindler“ hat mir trotz anderer Schwachstellen mehr zugesagt. Bei „Inventing Anna“ hingegen habe ich mich durch meine (Vor)Recherche häufiger geärgert, dass die Inhalte so verfälscht wurden.

Julia: Der Wendler oder Attila Hildmann hatten doch auch ewig Instagram-Profile. Also so viel zum Profit auf der Plattform. Ich glaube, es muss ein aktueller Verstoß gegen die Richtlinien vorliegen, um das Profil zu löschen und das tut es bei Sorokin nicht. Habe mir gerade mal ihr Profil angesehen und muss sagen, ich bin ein bisschen enttäuscht. Da ist ja jede zweite Influencerin mehr „Lifestyle-Schwindel“ ...

Felix: Der Grund, warum reale Kriminalfälle (insbesondere Betrügereien, Drogenhandel im großen Stil oder Serienmorde) so gut ankommen, ist unsere Faszination mit gesellschaftlichen Performances und wie gewisse Menschen diese gezielt ausnutzen. Also wie Anna den Habitus der Superreichen studiert hat, um alleine durch das oberflächliche Nachmachen auch von der Substanz dahinter etwas abzubekommen, wie Pablo Escobar einen kompletten Drogen-Parallelstaat aufgebaut hat, obwohl eigentlich Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit herrschen sollten und Serienmörder*innen unser Grundvertrauen in eine Kollektivmoral missbrauchen und „normales“ menschliches Verhalten vortäuschen. Bei all diesen Fällen denken wir uns: „Krass, wie alles, was uns heilig ist, verarscht wird. Unsere Institutionen, Verhaltenskodexe, Glaubenssätze, etc. Alles ist tatsächlich nur Schall und Rauch!“

Fake it ’till you make it“ ist ein oftmals notwendiger Ratschlag und richtet ja in der Regel keinen Schaden an. Meistens meint er ja dasselbe wie „Übung macht den*die Meister*in“. Nur wird er in Fällen wie Annas etwas halbgar angewendet. Hätte sie ihren Reichtum gefaket, durch ihre fancy Connections große Summen akquirieren können und damit unternehmerisch etwas Sinnvolles angestellt, könnte man sie ja berechtigterweise feiern. Und sie hätte das Geld vielleicht sogar zurückzahlen können. Aber das war ja nie ihr Plan, es war ein ziemlich typisches Pyramiden-Schema.

Geschäftstüchtig ist sie jetzt eigentlich nur unabsichtlich geworden, denke ich. Da ihre Geschichte so absurd großkotzig und dreist ist, kann das Erzählen der Story tatsächlich „ehrliches“ Geld einbringen.

Julia: Ich finde irgendwie geil, noch zwischen „ehrlichem“ und „unehrlichem“ Geld zu unterscheiden. Also ja, sie hat heftig beschissen und Leute haben ihr Geld gegeben, dass sie nicht „verdient“ hat, wobei man sich schon auch fragen muss, was genau das heißt und inwiefern diese Leute nicht sowieso blind irgendwas verprassen und in diesem Fall hatten sie eben eine Schuldige.

Felix: Total. Ich würde mal schätzen, dass Reiche in solchen Situationen ohnehin nur Summen geben, die sie verkraften können ...

Julia: Also don't get me wrong, natürlich ist es ungerecht, dass jemand so krass viel Cash macht mit Lügen. Aber finde es auch scheinheilig, wie viele jetzt so sind „Öhöö, sie hat nie hart gearbeitet“ und selbst ganz oben stehen in der Kapitalismus-Kette.

Sarah: Amen. Die meisten sind nur erzürnt, dass sie „nicht dafür gearbeitet hat“, aber nicht die Straftat selbst entzürnt. Gleichzeitig werden alle selfmade Millionäre/Milliardäre so hart gefeiert. Jeff, Elon und Co. werden verehrt und verteidigt bis aufs Blut in Kommentarspalten.

„ Superreiche haben wirklich keinen Geschmack – sei es ihre Mode oder ihre Freund*innen. “

Felix

Felix: Mich juckt daran auch vorrangig das Framing: Dass die ganze Aktion unter der Flagge des Eat-the-Rich-isms passiert sei, klingt ziemlich Zeitgeist-opportunistisch.

Julia: Ja, ebenso die Pseudo-Feminismus-Schiene, die die Serie fährt, wie Sarah bereits angesprochen hat ...

Marie: Denkt ihr denn, dass Netflix damit Nachahmer motiviert?

Felix: Bestimmt. Absolut alles wird ja aus den Medien nachgeahmt, vom Lippenstift bis zum BBL. Und ich denke, dass auch glamouröse Betrugsfälle wie dieser andere zum Nachmachen animieren. Gleichzeitig muss ich zugeben, dass Firmen wie Netflix nicht vorrangig einen gesellschaftlichen Erziehungsauftrag haben und man die Frage nicht ganz ohne Ambivalenz beantworten kann.

Ich persönlich störe ich mich bei Annas Story auf Netflix daran, dass wie bei vielen True-Crime-Serien ein Personenkult aufgebaut wird und der*die Täter*in gefeiert wird. „Taking from the rich and giving to the… yourself“ ist zwar nicht das Schlimmste, was eine Person machen kann, aber das Robin-Hood-Narrativ finde ich an dieser Stelle sehr unpassend. Gleichzeitig muss ich auch ehrlich zu mir sein bei der Frage, ob ich Serien aus diesem Genre anklicken würde, wenn die Hauptfigur nicht so ausgeklügelt und außergewöhnlich agiert hätte. Vermutlich nicht. Glitz, Glam und dreiste Lügen sind nun mal interessant! Was ich mir angucken sollte und was ich dann letzten Endes schaue, ist also ein typischer innerer Widerspruch. Vielleicht typisch menschlich? Oder ein Produkt der diversen Erwartungen an Konsum und unsere Haltungen zu allen möglichen Themen.

Mitnehmen tue ich: Superreiche haben wirklich keinen Geschmack – sei es ihre Mode oder ihre Freund*innen.

Und jetzt seid ihr dran: Was haltet ihr von „Inventing Anna“? Kommentiert hier oder auf Instagram und diskutiert mit uns weiter ...

Dieser Artikel ist Werbung, da er Markennennungen enthält.

  • Fotos:
    Netflix

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