
„Die Chroniken von Na ja“ – Das Recht auf Wehwehchen
Hört auf, eure individuelle Lebenssituation immer im großen Ganzen einordnen zu wollen und suhlt euch ruhig mal ohne schlechtes Gewissen in Selbstmitleid
Lisa plädiert für weniger Whataboutism und Relativieren und mehr Selbstmitleid!
Oh lalaaa, es tut mir leid! Lange ist es her, dass ich in meiner Rolle als leidende Freelancerin hier von mir haben hören lassen. Denn obwohl mich wirklich viele E-Mails und Nachrichten erreichten (ja, wirklich) und ich Sternzeichen Löwe bin: Ich wollte meine Wehwehchen angesichts der dauerschlimmen Welt nicht redaktionell wiederkäuen und breit treten. Die eigenen Probleme erscheinen nämlich plötzlich ganz klein, wenn man sie mit dem großen Ganzen vergleicht. Und gerade in den Sozialen Netzwerken bekommt man direkt den Whataboutism-Vorschlaghammer ins Gesicht geknallt, wenn man es mal wagt, sich öffentlich über vermeintlich unwichtigen Schmu zu echauffieren, während die Welt und unsere Gesellschaft den Bach heruntergehen.
Es ist aber komplett legitim, nicht immer die weltpolitischen und ganz großen Dinge zu thematisieren, sondern sich auch mal um die eigene Achse zu drehen und auf sich zu fokussieren – und hier wären wir direkt schon beim Thema. Als Freelancerin arbeite ich sieben Tage die Woche zu gefühlt jeder Uhrzeit. Leute rufen mich um 21 Uhr an und wollen etwas besprechen. Ich bekomme um sieben in der Früh' E-Mails, in denen ich gefragt werde, wie lange ich denn wohl für Text Y oder Artikel Z brauche.
Man könnte, sollte, hätte doch – Nein!

„ „Dieses Gefühl, dass man sich keine Minute Ruhe gönnen darf, weil man sonst faul ist.“ “
Freelancer sein bedeutet, permanent das schlechte Gewissen im Nacken sitzen zu haben. Weil man permanent das Gefühl hat, dass alle um einen herum mega produktiv sind und (und das ist der sicko Part) merken, dass man getrödelt hat. Dieses Gefühl, dass man sich keine Minute Ruhe gönnen darf, weil man sonst faul ist und dass man sich für jeden Spaziergang, Besuch im Yogastudio oder Filmabend rechtfertigen muss, wurde bei mir im vergangenen Jahr immer stärker und nahm immer gravierende Ausmaße an. Sobald ich Netflix anschmiss, fühlte ich schon die zahllosen Augen meiner Auftraggeber*innen auf mir ruhen. An einem Sonntag wohlgemerkt. Meine To-do-Listen packte ich mir mit so vielen Aufgaben voll, ich hätte sie auch nicht abarbeiten können, hätte ein Tag 34 statt 24 Stunden. Auch Freizeitaktivitäten und meine Hobbys wanderten unbemerkt auf diese Listen und wurden zu Pflichten, die es abzuhaken galt.
Ich wusste, dass das alles in meinem Kopf passierte, aber ich bekam meine Synapsen nicht dazu, sich hier zu lösen. Sie waren dermaßen verschlissen und verschweißt, dass nur eines half: Reboot. Über meine einmonatige Auszeit in Bali habe ich hier auf Beige berichtet. Verschwiegen habe ich, dass ich wirklich kurz vorm Durchdrehen war. Ich wusste, dass ich mir den Druck selbst machte, doch ich kam aus diesem Hamsterrad nicht aus eigener Kraft und schon gar nicht in Berlin wieder heraus. Nun bin ich seit Dezember wieder in Berlin und habe wirklich vieles von dem, was ich mir auf Bali vorgenommen und was ich gelernt habe, geschafft, in meinen Alltag zu integrieren. Doch es gibt eine Sache, bei der ich nicht sicher bin, ob ich hier eventuell einen falschen Weg eingeschlagen habe.
Für das Recht auf Wehwechen und Problemchen
An dieser Stelle schließt sich nun auch wieder der Kreis zu meiner Einleitung. Ich habe während meiner Yogalehrer-Ausbildung gelernt, Dinge gelassener zu sehen und Gegebenheiten zu akzeptieren oder immer das Gute zu sehen. In meinem Falle hat das aber dazu geführt, dass ich in eine Art dauerdefensive Haltung verfallen bin. Noch nicht mal so sehr bei Konflikten, die hielten sich zum Glück in Grenzen. Eher so allgemein. Wenn was nicht so lief, wie ich es mir vorgestellt hatte, dann tröstete ich mich mit dem Gedanken, dass es so schon OK ist und ärgern jetzt nichts bringt. Wenn man diese Einstellung allerdings auf die Spitze treibt, wird man nachlässig. So geschehen zumindest bei mir. Ein großer Brocken meines Perfektionismus', den ich eigentlich sehr an mir schätze im Beruflichen, ist weggebrochen. Wie ein kalbender Gletscher. Ich hatte das Gefühl, dass ich mit einem leicht schrägen Dauergrinsen alles um mich rum halt hinnahm. Opium für's Lisa.
Und ja, man soll sich auch nicht über jeden quer sitzenden Furz aufregen und schon gar nicht den ganzen Tag. Aber ich plädiere hier noch mal mit Nachdruck für das Recht auf Wehwechen und Problemchen aus der eigenen Bubble. Als ich nach meinem knapp zweiwöchigen Weihnachtsurlaub wieder in meine Wohnung kam und feststellte, dass es sich dank eines nicht geschlossenen Fensters einige Tauben in meinem Schlafzimmer gemütlich gemacht hatten, nahm ich es mit Humor und Fassung. Während ich die Taubenscheiße vom Dielenboden kratzte, beruhigte ich mich mit dem Gedanken, dass ich ein Dach über dem Kopf habe und ein sehr schönes noch dazu.
„ „Ihr habt das Recht, ohne schlechtes Gewissen zu leiden {...}. Auch, wenn es in Australien brennt. Auch, wenn Corona gerade eine Weltreise unternimmt.“ “
Als ich Ende Januar eine unerwartet sehr hohe Rechnung von meinem Steuerberater bekam, versuchte ich mich an der gleichen Bewältigungsstrategie. Die – im übrigen komplett faire und gerechtfertigte – Rechnung war doch ein Beweis für meine finanziellen Erfolg im vergangenen Jahr. Und hey, ich leiste mir einen Steuerberater, das machen auch nicht viele Freelancer. Die Wahrheit war aber: Es war große Scheiße. Meine Bali-Zeit und eine knapp 4000 Euro hohe Steuernachzahlung hatten ein Loch in meinen Finanzhaushalt gerissen, aus dem ich mich, seitdem ich zurück war, mit extrem viel Fleiß und Verzicht gerade am Herausarbeiten war. Ja, wir bekommen oftmals schöne Sachen geschenkt, dürfen an tollen Events teilnehmen oder in schönen Hotels übernachten, aber das bezahlt nicht meine Verbindlichkeiten. Hinter den Kulissen auf Instagram oder auch hier, da geht es auch in meinem Alter und meiner Berufserfahrung manchmal fast schon prekär zu. Und ich habe, ihr habt das Recht, ohne schlechtes Gewissen zu leiden und darüber traurig zu sein. Auch, wenn es in Australien brennt. Auch, wenn Corona gerade eine Weltreise unternimmt. Auch, wenn auf der Steuerberaterrechnung eures Nachbarn eine höhere Summe steht.

Der Trick: Selbstmitleid immer mit (Selbst)reflexion verbinden
Das ist quasi wie Body Positivity aber fürs Leben. Andere wären vielleicht gerne in deiner Situation, aber es heißt nicht, dass deine Situation gerade das Nonplusultra ist und du undankbar bist, wenn du dich ärgerst. Es hilft außerdem manchmal einfach mehr, laut in ein Kissen zu schreien, heulend eine Weinflasche zu exen oder eine Tür einzutreten, anstatt die Schuld bei Mercury in Retrograde oder dem Supermond abzuladen und die eigenen Gefühle zu unterdrücken. Irgendwann steht ihr nämlich dann da, mit einem zuckenden Auge und lächelnd, bevor ihr wie ein Kartenhaus zusammenfallt. Da hilft dann auch kein Mantra mehr. Wie immer gilt hier jedoch: Maß halten. Denn ja, ich habe es gut sehr gut sogar, und genieße so ziemlich alle Privilegien unserer Gesellschaft, ich weiß das.
Dennoch bestehe ich auf mein Recht, meine individuelle Situation zum Kotzen zu finden, verzweifelt zu sein oder von Verzicht zu sprechen, wenn ich zwar vier Monate nicht shoppe, mir aber trotzdem ein gutes Abendessen gönne. Und ihr habt das auch – nicht nur als Freelancer, aber dann direkt mal doppelt so viel (sorry, ist so). Wir sind doch immer irgendwie im Überlebensmodus und versuchen trotzdem, das Beste daraus zu machen. Ich habe meine Balance übrigens gerade sehr gefunden und bin wirklich im Reinen mit mir, meinen Finanzen und bisher auch meiner Gesundheit (toi toi toi). Ich habe den Januar einfach aus meinem Verlauf gelöscht und 2020 mit dem Februar starten lassen.
Schwarzmaler hassen diesen Trick!
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